Kurt und ich treffen uns nach längerer Zeit am Freitag, den 9. Mai. Als Kurt die Tür öffnet, merke ich sofort, dass dieses Mal etwas anders ist. Alle Fenster sind verdunkelt und überall brennen Kerzen. Er führt mich in sein Wohnzimmer und setzt sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Vor ihm liegen drei Bücher.
Upanishaden – Die Geheimlehre der Inder.
Liä Dsi – Das wahre Buch vom quellenden Urgrund
Buddha – Pfad zur Erleuchtung
„Weiß du was gestern für ein Tag war?“, fragt Kurt.
„Natürlich“, erwidere ich. „Vor 80 Jahren endete der 2. Weltkrieg in Europa.“
Kurt nickt. „Und du kennst auch gewiss den Spruch: Das Einzige, was wir aus der Geschichte gelernt haben, ist, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.“
Ich seufze. „Ja, das ist wohl wahr. Leider.“ Seit 1945 wurden weltweit hunderte Kriege geführt, aber genau weiß das niemand, denn es kommt offenbar auf die Definition an, ab wann man einen bewaffneten Konflikt als Krieg einstuft.
„Immer wird irgendwo gekämpft“, fährt Kurt fort. „Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion gab es in den 1990er Jahren eine unglaubliche Phase der Erleichterung und Hoffnung: Der 3. Weltkrieg hatte nicht stattgefunden und schien endgültig als Bedrohungsszenario obsolet geworden zu sein. Ich erinnere mich gerne an die Szene, als Bill Clinton und Boris Jelzin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz scherzten und herzhaft lachten.“ Pause. „Und heute? Eine Krise nach der anderen und Spannungen ohne Ende. Noch nie wurde derart viel Geld in die Rüstung gesteckt wie in diesen Tagen, selbst auf Kosten von Sozialleistungen. Ich bin neugierig, wann sich der erste aufrafft und den schrecklichen Slogan aus dem Dritten Reich Kanonen statt Butter! als neuen, genialen Gedankenblitz in den sozialen Medien postet. Die Feindseligkeit, die aktuell auf unserem Planten herrscht, erschüttert mich. Das habe ich in dieser Form noch nie erlebt, selbst nicht während der kältesten Tage des Kalten Krieges.“
Kurt betrachtet eine Weile die Bücher vor sich, dann atmet er tief durch sieht mich an. „Unser schönes Österreich gehört zu den wenigen Staaten, die seit 80 Jahren an keinem einzigen militärischen Konflikt beteiligt waren. Gewiss, auch wir haben unsere Probleme und es gibt hier vieles, das mich stört. Aber wir haben Frieden erhalten und unsere Neutralität gewahrt! Und wenn man bei uns durch die Natur geht, fällt es einem schwer, sich vorzustellen, dass nur wenige Flugstunden entfernt die Kanonen donnern und es Bomben hagelt. Ja, und da ist mir eines nachts unvermutet bewusst geworden, dass der Krieg nur über die Medien zu mir kommt. TV und Internet, denn Zeitungen aus Papier lese ich schon lange nicht mehr. Also habe ich beschlossen, regelmäßig elektronikfreie Abende einzulegen Kein Fernseher, kein Handy, ja, ich schalte nicht einmal das Licht an. Der sanfte Schein der Kerzen hilft mir, mich zu sammeln zu konzentrieren.“
„Und die Bücher da vor dir?“, frage ich Kurt.
Er schmunzelt. „Vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, habe ich mich viel mit Philosophie und den verschiedenen Weltreligionen beschäftigt, und diese Bücher da habe ich wieder ausgegraben. Ich werde sie lesen, alle drei – und mit Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund fange ich an.“
Kurt nimmt besagtes Buch zur Hand und beginnt zu blättern. Schließlich hält er inne und sagt: „Super, das ist gut. Höre!“ Dann liest er laut vor: „Es war einmal ein Mann in Tsi, der war sehr gierig nach Gold. Am frühen Morgen kleidete er sich an und ging auf den Markt. Da kam er an den Stand eines Goldwechslers. Er nahm das Gold und ging davon. – Ein Polizist verhaftete ihn und fragte: „Ringsum stand doch alles voll Menschen: Wie konntet Ihr da anderer Leute Gold wegnehmen?“ – Der Mann erwiderte: „Als ich das Gold nahm, sah ich die Menschen nicht, ich sah nur das Gold.“
Über Kurts Gesicht huscht plötzlich ein Lächeln „Ich denke, ich werde weit voranschreiten und vielleicht gelingt es mir nach einiger Zeit so tief in die philosophische Materie einzudringen, dass ich mit Hilfe der fernöstlichen Weisen Energiequellen erschließe, die es mir erlauben, zu schweben.“
„Zu schweben?“, frage ich ungläubig.
„Ganz recht“, erwidert Kurt. „Ich sitze da, so wie jetzt, die Füße überkreuzt, und mit reiner Gedankenkraft überwinde ich die Schwerkraft und schwebe ein, zwei Meter über dem Boden.“
„Das wäre ein Wunder!“, rufe ich prompt.
„Ein Wunder in der Tat“, antwortet Kurt. „Stell dir nur vor: Mit der Fähigkeit zu schweben wäre ich in sämtlichen wichtigen Talkshows der Super-Stargast und in Hollywood würden sie sich um mich reißen. Und vermutlich würde es nicht lange dauern, bis Spitzenbeamte der CIA oder des Pentagon versuchen würden, mich als Guru für Donald Trump zu rekrutieren. Denn es ist tatsächlich ein Wunder, das er braucht, um den Inhalt der tausend Fässer, die er inzwischen geöffnet hat, ohne gröbere Schäden in greifbare Resultate zu verwandeln. Und bei aller Kritik an Donald: Sollte er mich davon überzeugen, dass er sein Wahlversprechen ehrlich einhalten will, das darin besteht: Aktuelle Kriege beenden und keine neuen anfangen! – würde ich als wunderbringender Guru sogar für ihn jobben.“