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Konsumverzicht

von Thomas Beckstedt

„Also ehrlich“, sagt mein Freund Kurt unlängst zu mir, „schön langsam drückt die ganze Geschichte mächtig auf mein Gemüt. Eskalation, Sanktion, Inflation! Diese Begriffe beherrschen die Schlagzeilen. Alles wird teurer, eine Krise jagt die andere, und das Einzige, was den Leuten dazu einfällt, sind Waffen und Sanktionen und noch mehr Waffen und Sanktionen. Ich mag mir die Nachrichten gar nicht mehr anschauen.“ Ich seufze und murmle: „Stimmt schon. Seit einiger Zeit spüre auch ich so ein merkwürdiges Unbehagen in mir. Ich kann mich nicht erinnern, je so ein ungutes Gefühl gehabt zu haben …“ Wir sitzen in Kurts Garten unter einem Sonnenschirm und trinken Bier. Dieser Nachmittag ist sehr ruhig. Kurt wohnt am Rand eines kleinen Dorfes mit Blick auf ein paar Felder und einen Wald dahinter. Außer einem leisen Blätterrauschen und dem weit entfernten Krähen eines Hahnes ist nichts zu hören. „Es ist schön hier“, sage ich, um ein anderes Thema zu beginnen. „Ja“, sagt Kurt. „Aber wie lange noch?“ – „Wie meinst du das?“, frage ich beunruhigt. „Fangen sie auch hier an, Flächen umzuwidmen?“ Mit dem Argument, Arbeitsplätze zu schaffen und den Fortschritt zu befördern, lässt sich jedes Grüngebiet mit Beton versiegeln. Kurt beantwortet meine Frage nicht, stattdessen sagt er plötzlich: „Am meisten stört mich die Abhängigkeit von allen möglichen Strukturen und Organisationen: Wasser, Energie, Lebensmittel: Alles kommt von außen! Die Preise explodieren und die Steuern steigen mit. Aber was kann man tun? Wenn man nicht über so viel Geld verfügt, dass es einem egal ist, was wieviel kostet, wird die Geschichte auf Dauer ziemlich zäh – und möglicherweise bleibt uns am Ende, wie ein österreichischer Politiker unlängst meinte, nur die Betäubung mit Alkohol und Psychopharmaka.“ Kurt lacht böse und ruft: „Lass uns darauf trinken! Runter damit.“ – „Ja, runter damit!“, erwidere ich entschlossen, und wie zwei Synchronschwimmer leeren wir unsere Bierdosen. Kurt bringt zwei neue und erklärt: „Weißt du, ich überlege ernsthaft, meine Zelte hier abzubrechen und woanders neu zu beginnen.“ – „Na ja“, erwidere ich etwas überrascht. „Und wohin …?“ Nachdem die einflussreichen Mehrheiten auf dieser Welt in den letzten Jahrzehnten eifrig an der Globalisierung gearbeitet haben, sind auch die Konflikte und Krisen inzwischen ausgesprochen global. „Ich weiß noch nicht so recht“, räumt Kurt ein. „Auf alle Fälle schwebt mir ein Blockhaus an einem Fluss oder See vor, wo ich mich selbst versorge und mein nächster Nachbar mindestens zehn Kilometer entfernt lebt. Aber jetzt kann ich noch nicht weg. Fünf Jahre habe ich noch bis zur Pension, erst dann bin ich frei. Ich habe also noch Zeit, mir etwas zu überlegen. Bleibt die Frage, wie ich diese Zeit bestmöglich nutze ohne meine Ersparnisse aufzubrauchen.“ – „Konsumverzicht!“, werfe ich ein und beginne zu erläutern, wie ich mich organisiere, damit ich im Winter nicht frieren muss und weiterhin wohlig warm duschen kann. Kurt hört geduldig zu, gibt sich aber nicht sonderlich beeindruckt. Ich frage: „Weißt du etwas Besseres? Ich meine abgesehen von deiner Blockhausidee …?“ Darauf Kurt: „Deine Überlegungen sind gut und vernünftig. Aber alles, was du vorhast, passiert im Stillen. In deinen Plänen liegt kein öffentlicher Protest.“ Ich runzle die Stirn: „Und was soll ich deiner Meinung nachtun? Soll ich mich auf die Straße kleben oder irgendwo anketten? Was ist eigentlich dein Plan zu protestierten?“ Kurt lächelt und verkündet feierlich: „Ich werde mich nicht mehr rasieren! Ich rasiere mich nicht mehr, bis die Kosten für Energie auf ein normales Niveau zurückgegangen sind. Alle, mit denen ich zu tun habe, werden meinen Protest sehen und mit mir darüber reden. Außerdem leiste ich damit einen großartigen Betrag zum Umweltschutz. Keinen Rasierschaum und keine Klingen mehr! Stell dir vor, alle heute glattrasierten Männer würden sich diesem Protest anschließen. Ich weiß nicht, wie viele glattrasierte Männer es gibt. Aber nachdem rund acht Milliarden Menschen auf diesem Planten leben, könnte ich mir vorstellen, dass wir von wenigstens 500 Millionen Nassrasierern ausgehen dürfen. Das ist ein Hammer: 500 Millionen Rasierschaumdosen jeden Monat eingespart macht sechs Milliarden in nur einem Jahr. Außerdem würde ich es sehr amüsant finden, wenn die Politiker, die uns laufend auf harte Zeiten einschwören, alsbald aussehen wie Andreas Hofer oder Billy Gibbons von den ZZ-Top. Du kennst doch ZZ-Top?“ – „Natürlich“, lache ich. „Höre ich noch immer gern. Vor allem die alten Songs wie Beer Drinkers & Hellraisers oder Hi Fi Mama!“ Kurt zwinkert mir zu, aktiviert seine Gartenmusikanlage und wir hören eine Weile ZZ-Top unter dem Sonnenschirm. „Tja, und wenn die Situation nach fünf Jahren noch immer nicht besser ist“, sagt schließlich Kurt, „rasiere ich meinen zu diesem Zeitpunkt vermutlich sehr, sehr langen Bart wieder ab und mach mich vom Acker.“ Damit dreht er die Musik lauter und beginnt zu Lowdown in the Street zu tanzen.

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