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FUNDÜRO

von Mario Passini

Es begann mit Zahnweh. Eigentlich wollte ich ein genussvolles Wiener Frühstück im Freien genießen. Im berühmten Wiener Kaffee Engländer. Aber nein, mein „Vierter von oben rechts“ wollte anderes. Ich startete meinen Oldtimer, ganz vorsichtig, denn es sind ja bekanntlich die Jungen und wir, die ganz Alten, die gar so schröcklich unfallanfällig sind. Deshalb zittere ich jedes Mal vor den Konsequenzen, wenn eine Fliege an die Windschutzscheibe klatscht. Weit ging die Reise nicht. Beim Einschwenken auf die Wiener Ringstraße ist Ende. Junge Menschen versperren den Weg. Wunderbare Menschen. Deren Mantra es ist mit Sit-ins die Welt zu retten. Auch die Abkehr vom Öl soll dadurch beschleunigt werden, denn: „Öl ist böse“. Aber keine Sorge, sie glauben´s nicht wirklich. Ist nur Business. Sie nehmen das entbehrungsreiche Leben eines einkommenslosen Menschen auf sich und opfern sich auf für uns. Für dich und für mich. Sie sind klimafit und klebstoffresistent.

Mich aber quälte Zahnweh. Ungewollt hupe ich. Na, mehr habe ich nicht gebraucht. Mein Glück war, dass, bevor ich noch wortgewaltig in die Steinzeit zurückverdammt wurde, die liebe Polizei kam. Ich konnte weiterfahren.

Im Wartezimmer schreit mich der Aufmacher einer Tageszeitung an: Frieden jetzt! Nur das zähle. Es sei Zeit diesen blutigen Krieg zu beenden. Hört auf Krieg zu führen. Einigt euch mit Russland. Das Argument ist unschlagbar: Der Große Preis ist Friede. Ein guter Deal. Wirklich? Ist das nicht eher so, als ob man bei einer Home-Invasion der Räuberbande sagt: Ok, da habt ihr was mir gehört. Mein Heim, mein Haus. Und dann sei Friede mit Euch. Überzeugt nicht ganz. In den Social-Medien hingegen ist dieses „Friedensargument“ die Parole des Tages. Es wird massenweise nachgeplappert. Die renommierte Informations- und Nachrichtenplattform NTV bezeichnet Menschen, welche diese Propaganda weitertragen als „nützliche Idioten“. Dann lese ich weiter, dass einer der höchsten russischen Politiker, Ex-Präsident Dimitri Medwedew, droht Europa mit Atomschlägen zu vernichten. Na, hoffentlich sagt ihm einer seiner Lakaien, dass er in diesem Fall, so nach etwa acht bis zehn Minuten, ebenfalls zu Staub zerfällt. Unser hochwürdiger Herr Kaplan, Gott habe ihn selig, sagte immer: Aus Staub bist du geworden. Zu Staub wirst du werden. Amen. What a wonderful world. Bei dieser Lektüre vergeht mir das Zahnweh, ich will gehen. Das heißt es: Der Nächste Bitte. Ich bin dran.

Also Genusssitzung war´s keine. Daheim angekommen merke ich, ich habe meinen Regenschirm verloren. Den lieben, alten. Den mit den kleinen Löchern, damit man merkt, wann der Regen aufhört. Also gehe ich ins Fundbüro. Ein altes, gütiges Manderl, war hilfsbereit. Sehr hilfsbereit sogar. Es zeigte auf einen Berg von Schirmen und sagte: Suchen Sie sich einen aus. Mein Blick schweifte umher und ich sah einen unübersehbaren Berg von Kartons. Mit Aufschriften wie: Anstand, Respekt, Hilfsbereitschaft, Solidarität. Ich fragte, was soll das Bitte?

Ja, sagt der Verlustverweser, man soll nicht glauben, was die Gesellschaft im Laufe der Zeit alles verloren hat. Achtlos beiseite schaffte. Und das Schlimme daran ist, die Leute merken´s gar nicht. Dann zeigte er auf Kartons mit Aufschriften wie: Gemeinschaftssinn, Einigkeit, Zusammenarbeit, Umgangsformen. Ja, sagte der Schatzmeister der verlorenen Dinge, da sind viele antiquierte Sachen drinnen, die man heute nicht mehr braucht. Und was ist in dem Karton drinnen wo Duden draufsteht, frage ich? Ach ja, meint der Fundsachen-König, da ist die gute, alte deutsche Sprache drin´. Braucht auch keiner mehr. Ist uncool, voll out. Heute ist Genderdeutsch. Eine unterschwellige Melancholie lag in seinen Worten. Und Handykultur ist, mit der Nase im Handy durch die Sozialen Medien scrollen. Andererseits, sagt der Alte, sichtlich bewegt. nimmt die Anzahl der Geschlechter zu. Dabei hat der lieber Gott doch, in seiner unendlichen Weisheit, der „Holy bible“ zufolge, nur zwei Geschlechter geschaffen. Heute soll es, so höre ich, schon deren sieben geben. Seine Meinung dazu: Man wird wohl abwarten müssen ob diese wunderbaren Geschöpfe den göttlichen Auftrag des „Vermehret Euch“ in Art der Variante sieben erfüllen können. Ich frage mich, ob sie das einfach so machen können. Naja, wer bin ich schon, um darüber zu urteilen?“

In einer Ecke sehe ich, bis an die Decke, gestaffelte Kartons mit der Aufschrift Erinnerungen. Ich frage nicht. Vielleicht hatten wir alle etwas verloren – unsere Werte, unseren Anstand, vielleicht sogar unseren Verstand? Aber inmitten dieser verrückten Welt, mit ihren Protesten und ihren neu erfundenen Geschlechtern, hatte ich zumindest meinen Humor nicht verloren. Ich verlasse schnell die Stätte und lasse den Hüter der verlassenen Dinge allein zurück.

Oh, mein Gott! Was? Sie auch hier? Kluge Leserin, schöner Leser? Was haben Sie denn verloren? Was vermissen Sie? Nichts? Richtig. Was man nicht vermisst, hat man nicht verloren.

Mich aber quälen immer noch Zahnschmerzen. Und das ist gut so. Denn eine asiatische Weisheit sagt: Schmerzen machen Menschen denken. Denken machen Menschen weise. Es scheint, als ob wir alle noch sehr viele Schmerzen ertragen müssten, um schließlich Weisheit zu erlangen, sorgt sich

Ihr Mario Passini.

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