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Prokrastinationswirtschaft

von Mag Christian Sec

Die meisten erfolgreichen Geschäftsmodelle konzentrieren sich darauf, den Menschen zu animieren, Zeit totzuschlagen, anstatt Nützliches zu tun.

Die Essenz des Reichtums unserer Gesellschaft bilden Waren und Dienstleistungen. Sie können entweder direkt ein Bedürfnis befriedigen, wie z.B. Kleidung gegen die Kälte, oder indirekt durch Maschinen, um z.B. Kleidung gegen die Kälte herzustellen. Aber irgendetwas gibt es noch, was nicht so sehr ein Bedürfnis ist. Ein Blick auf die Zeit, die ich mehr oder weniger gedankenlos in den sozialen Medien verbracht habe, macht es mir deutlich: Die Vergeudung von Lebenszeit wird mir wieder einmal schwarz auf weiß verdeutlicht. Irgendetwas in mir scheint das Verlangen haben, zu verdrängen oder flüchten zu wollen, aber vor was? Schon die alten Römer wussten: Gebt den Leuten nicht nur Brot, sondern auch Spiele. Es wäre falsch zu behaupten, dass die Leistungen, also die Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft gemessen am BIP nur der offensichtlichen Nützlichkeit und dem Wohl der Gesellschaft dienen. Ich wage zu behaupten, dass der Großteil des BIPs der Nutzlosigkeit dient. Und noch etwas: Der Anteil der Nutzlosigkeit am BIP wird mit jeder technologischen Entwicklung größer. Aber was genau bedeutet nutzlos im Kontext des Konsumierens? Ist jeder Genuss bereits unnütz, weil er über die Grundbedürfnisse hinausgeht? Möglicherweise würde ein Puritaner, der jede Form von zügellosen Ausschweifungen ablehnt, so argumentieren. Denn das würde ihn nur von seiner eigentlichen Bestimmung abhalten, als Schuhmacher oder Kaufmann tätig zu sein. Es wäre für ihn sündhaft und damit eine Verschwendung von Geld und körperlichen Ressourcen, mit anderen Karten zu spielen oder bis spät in die Nacht tanzen zu gehen, wenn doch der frühe Spatz den Wurm fängt. Ein Nihilist würde demgegenüber argumentieren: Es ist sowieso alles sinnlos, also schere ich mich einen Dreck um Sitten und Anstand, und daher gehe ich in Freudenhäuser und trinke bis spätabends an der Bartheke und lasse es mir gut gehen. Diesbezüglich also ein Urteil zu geben, ob eine Tätigkeit unnütz ist oder nicht, ist eine Frage der Weltanschauung.

Während der eine also das Amüsement als unnützen Zeitvertreib betrachtet, sieht der andere es als nützlichste Form, das sinnlose Dasein zu bestreiten. Also müssen wir ein wenig tiefer schürfen, um dem Unnützen auf die Spur zu kommen. Der Wiener Psychologe Adolf Adler erkannte, dass es in jedem Leben ein Streben nach Macht gibt, das aber andererseits mit einem Minderwertigkeitskomplex einhergeht. Daraus entsteht ein Konflikt, der zu tausenden Ausflüchten führt, um den Anforderungen der Realität zu umgehen, denen das Individuum fürchtet, nicht gewachsen zu sein. Das Individuum errichtet damit eine Distanz zwischen sich und der Gesellschaft, argumentierte Adler, der ein Zeitgenosse Freuds war. Dieser Gedanke führt dazu, dass die Angst vor dem Scheitern, aber auch eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung, also das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit, zu einem Verdrängen und Aufschieben führt. Anstehende berufliche oder private Pflichten werden durch Ersatztätigkeiten hinausgezögert, man spricht dabei von der sogenannten Prokrastination. Wenn wir also an Prokrastination denken, dann lesen wir ein Buch oder schauen auf das Handy, nicht weil wir es wollen, sondern weil wir vor unserer Verantwortung in der Gesellschaft fliehen. Wir sind Meister der Verdrängung, jedoch mit dem kleinen Nebeneffekt von Magengeschwüren. Wir wollen gerade jetzt nicht über unsere Vorsorge nachdenken oder darüber, mit dem Rauchen oder Trinken aufzuhören. Wir wollen gerade jetzt nicht mit dem Projekt beginnen, weil morgen auch noch ein Tag ist. Wir haben Angst davor, zu beginnen und zu scheitern. Und genau dort öffnet sich ein riesiger Markt, der uns überschwemmt, ein wahrhaftiges Schlaraffenland, das uns dabei hilft, sich darin zu verlieren, um den eigenen Erwartungen und den der Gesellschaft zu entfliehen. Der Konsum von Suchtmitteln ist dabei ein einleuchtendes Beispiel. Jedoch ist Sucht ein dehnbarer Begriff. Eine Studie der Uni Wien zeigt, dass Jugendliche im Durchschnitt fast vier Stunden pro Tag in den sozialen Medien verbringen. Auch nicht der größte Optimist kann dabei davon ausgehen, dass die Jugendlichen nur dann auf Insta oder TikTok sind, wenn sie schon ihre Hausaufgaben fertig haben, sondern wir können davon ausgehen, dass sie es wahrscheinlich sogar mehrheitlich tun, um zu vergessen, dass sie noch Hausaufgaben zu erledigen haben. Lesen Sie mehr dazu in der nächsten risControl Print Ausgabe. 

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Die Nachhaltigkeit von morgen hat längst begonnen