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Wenn der Wissendurst stirbt

von Mag. Christian Sec

Ich erinnere mich an einen ehemaligen Schulkollegen, der immer zu den besten Schülern zählte, bis er eines Tages für alle überraschend eine Fünf in einer Mathe-Schularbeit schrieb. Niemand konnte damals die Konsequenzen dieses Misserfolges erahnen. Denn seine Herrlichkeit war mit diesem Tag zu Ende. Sein Leistungsabfall glich dem eines freien Falls. Und zwar nicht nur in Mathematik, sondern auch in allen anderen Fächern. Alle rätselten, was mit ihm los sei. Oberflächlich schien alles in Ordnung mit ihm. Er beeindruckte weiterhin nicht nur Mitschüler, sondern auch Lehrer mit seiner verbalen Schlagfertigkeit. Warum er jedoch plötzlich von einem der besten Schüler zu einem schlechten Schüler degradierte, war für alle ein Rätsel. Man fragte sich, ob es familiäre Probleme gab, die ihn vom Lernen abhielten. Aber Fehlanzeige. Eine Vorladung der Eltern vom Klassenvorstand löste das Rätsel des plötzlichen Leistungsabfalls nicht auf. Auch die Eltern konnten sich keinen Reim darauf machen, warum nun die Leistungen plötzlich mit einem Mal in den Keller abstürzten. Er blieb immer öfter der Schule fern, bis er schlussendlich überhaupt nicht mehr in die Schule kam. Aber der Grund für diesen rapiden Verfall blieb weiter im Verborgenen. Bis eines Tages unser Direktor in die Klasse kam und uns darüber aufklärte, was laut Psychologen der wahrscheinlichste Grund für diesen dramatischen Leistungsabfall war. Es war eine zu geringe Frustrationstoleranz, die ihn offensichtlich zum Schulabbrecher werden ließ.

Frustrationstoleranz bezeichnet die persönliche Fähigkeit, mit Enttäuschungen, Misserfolgen etc. umzugehen. Jemand mit hoher Frustrationstoleranz lässt sich von Enttäuschungen nicht tiefgreifend irritieren und nicht unterkriegen und kann seine Ziele weiterhin verfolgen. Schlechte Zensuren bei jemandem mit geringer Frustrationstoleranz können jedoch im Extremfall dazu führen, dass die Person jegliches Risiko vermeidet, noch einmal solch eine Enttäuschung zu erleben. Anstatt fürs nächste Mal mehr zu lernen, entschied sich mein Schulkollege dazu, das Risiko einer erneuten Frustrationserfahrung zu vermeiden. Die rationale Entscheidung war daher für meinen Schulkollegen gar keinen Lernaufwand mehr zu betreiben. Seine Kalkulation war folgende: Der Lernaufwand entspricht dem Erwartungswert für eine bestimmte Note. Je niedriger der Lernaufwand, umso niedriger die Erwartung für eine gute Leistung und umso geringer die Frustration bei einer schlechten Zensur. Jeder von uns besitzt eine bestimmte Frustrationstoleranz, die irgendwann ausgereizt ist. Wer z.B. dauerhaft wenig Lernerfolg in der Schule hatte, der wird jede Art von Weiterbildung vermeiden, weil er mit Lernen nur negative Gefühle verbindet. Der Wissensdurst, den jeder Mensch in sich trägt, wird dabei geopfert. Das ist die Lücke, in die Ideologien stoßen, die eine bestimmte Sehnsucht stillen, in eine Welt zurückzukehren, in der uns unsere Eltern die Funktionsweise der Welt erklärten und dabei alle Widersprüche durch ihre Allmacht auflösten. Jede Ideologie ist ein wenig ein Elternersatz und damit auch ein Ersatz dafür, selbstständig lernen zu müssen. Es sind also offensichtlich zwei widerstrebende Kräfte, die in uns wohnen. Einerseits die Sehnsucht, zur widerspruchslosen und einfachen Welt der Kindheit und andererseits die Komplexität der Welt verstehen zu wollen. Der Frust und unsere Frustrationstoleranz könnten dabei eine Rolle spielen, ob wir dann eher in die eine oder andere Richtung tendieren.

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