Die Frage wieviel Einkommen man für mehr Freizeit opfern würde, ist schwer vom herrschenden Zeitgeist zu trennen. Aber vielleicht wird es die Trennung bald nicht mehr geben.
Der Wunsch der Menschheit ist, sich von den Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren, schrieb einst Hannah Arendt in einem ihrer politischen Aufsätze. Dieser Wunsch ging für die meisten Menschen von der Antike bis zur Industrialisierung jedoch nicht in Erfüllung. Die geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit führte dazu, dass die meisten Menschen sich keinen Müßiggang erlauben konnten, der über die bloße Erholung von Stresssituationen oder körperlicher Belastung hinausging. Es war ein hoher Anteil der potenziellen Arbeitskraft der Bevölkerung von Nöten, um überhaupt die Existenz durch Nahrung zu sichern. Der Traum vom Müßiggang blieb also für die meisten unerfüllt und war verpönt. „Wenn sich ein Tagelöhner einen Augenblick ausruht, behauptet die „schmutzige Ökonomie“ dass er sie bestehle“, beschreibt ein französischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, die Einstellung zur Pause. Jedoch wird andererseits der Müßiggang schon seit dem Altertum als Belohnung für die Arbeit gesehen, wie man bereits bei Aristoteles nachlesen kann. Dieser Luxus war jedoch nur einer kleinen Gruppe der Menschen vorbehalten. Um den Wenigen den Müßiggang zu erlauben, war es also unumgänglich die Mehrheit zur Arbeit zu zwingen und von den Freuden der Freizeit so weit wie möglich fernzuhalten.
Mehr Zeit durch Industrialisierung
Die Industrialisierung und die damit verbundene Massenproduktion erhöhte jedoch die freien Zeitressourcen in der Bevölkerung. Mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung bildete sich eine Mittel- und Oberschicht, die über immer mehr Freizeit verfügte. Der sich daraus entwickelnde Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeiterschaft war nicht zuletzt auch ein Kampf um die Aufteilung der, durch die technologischen Errungenschaften, gewonnenen zeitlichen Ressourcen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts unterlag die Arbeitszeit keiner gesetzlichen Regelung und so war ein 16-Stunden oder gar 18-Stunden-Arbeitstag nicht ungewöhnlich. Die ökonomische Ungleichheit zwischen Unternehmern und Arbeitern war gleichzeitig auch eine Ungleichheit der Freizeitressourcen. Arbeiterbewegungen kämpften um die Aufhebung dieser Ungleichheit. In Österreich wurde 1859 die Sonntagsruhe sowie der der 11-Stunden-Arbeitstag eingeführt (66 Wochenstunden). Eine stetige Reduktion der durchschnittlichen Stundenanzahl in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts führte schlussendlich 1919 zur Einführung des Achtstunden-Arbeitstages, wohlgemerkt mit einer Sechstagewoche. Erst 1975 erfolgte die Einführung der Fünftagewoche und somit die Vollarbeitszeit von 40 Stunden. Auch die Urlaubstage wurden hart erkämpft. Urlaub war einst ein Privileg der Angestellten. Die Arbeiter kamen erst viel später in seinen Genuss. Nur die kirchlichen Feiertage waren für alle arbeitsfrei. Erst 1921 erfolgte das erste Urlaubsgesetz in Österreich, dass Arbeitnehmern einen bezahlten Urlaub von zwei Wochen garantierte. Bis 1983 dauerte es, dass die Urlaubsdauer schrittweise auf fünf Wochen erhöht wurde.
Prophezeiung von Keynes
Dies sollte jedoch noch lange nicht der Endpunkt der Entwicklung sein. Der entscheidende Punkt scheint nicht mehr die Notwendigkeit von Arbeit zur Erfüllung unserer Bedürfnisse, sondern die Wertigkeit von Arbeit in der Gesellschaft per se, und zwar im Verhältnis zur eigenen freien Zeit. Bereits 1930 prophezeite John Maynard Keynes, wohl beeindruckt von den ökonomischen und sozialen Errungenschaften der vergangenen hundert Jahren, dass die Menschen in hundert Jahren, also 2030, nur noch drei Stunden am Tag arbeiten werden müssen. Die immer höhere Produktivität würde dazu führen, dass eine 15-Stunden Woche völlig ausreiche, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die Menschen werden laut Keynes im Jahr 2030 von den „drückenden wirtschaftlichen Sorgen erlöst sein“ und ihr größtes Problem werde vielmehr sein, „wie die Freizeit auszufüllen ist“. Mittlerweile weiß man, dass sich diese euphorische Prognose wohl in den nächsten sechs Jahren nicht mehr erfüllen wird. Jedoch war die westliche Welt eine Zeit lang auf einen „guten Weg“. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1980, „dem goldenen Zeitalter des Kapitalismus“, gingen die Wochenarbeitszeiten praktisch in allen Industrieländern zurück und Umfragen in den USA zeigten auch, dass die Arbeitszeitverkürzung um rund 200 Stunden im Jahr, auch im Einklang mit den Bedürfnissen der Bevölkerung nach mehr Freizeit standen. Die Forscher kamen damals zum Schluss, dass die Menschen es vorziehen, ihre Zeit vermehrt nicht wirtschaftlichen Zwecken zu widmen, anstatt weiterhin lange zu arbeiten. Doch seit den 1980er-Jahren hat die materielle Sättigung offenbar einem neuen und wachsenden Gefühl des finanziellen Mangels in weiten Teilen der Bevölkerung Platz gemacht, schreiben deutsche Forscher, die Umfragedaten und Statistiken aus Europa und den USA analysierten. Die Höhe des als notwendig erachteten Einkommens in den USA stieg wieder an und lag 2007 im Verhältnis zum tatsächlichen Einkommen wieder beim Wert von 1950. Die Konsequenz dabei war, dass die Jahresarbeitszeiten zwischen 1980 und 2000 auch wieder anstiegen, und zwar um rund 150 Stunden im Jahr. Dabei zeigt sich, dass die Schere zwischen Arm und Reich wieder aufgegangen ist. Gerade Beschäftigte mit höheren Einkommen eifern den Konsumnormen der Reichen nach und opfern dafür Freizeit, war die Erklärung der deutschen Forscher. Dieser Zeitgeist der zuerst in den USA sichtbar wurde, schwappte mit Verzögerung auch nach Europa über. Das Hamsterrad war wieder in Mode gekommen und die Freizeit wurde dafür geopfert. Edward und Robert Skidelsky schreiben in ihrem Buch „Wieviel ist genug?“, dass Keynes die Gier des Menschen unterschätzt habe. Und zwar sowohl die Gier der Arbeitenden, die durch mehr Arbeit mehr Geld verdienen als auch die der Unternehmer, die ihre Gewinne nicht weitergeben. Wahrscheinlich hat Keynes als Ökonom nicht nur die Gier unterschätzt, sondern auch die, in uns tiefsitzende Arbeitsethik, die nur die Erwerbsarbeit als sinnstiftend ansieht. Schon allein das Wort Beruf, dass von der göttlichen „Berufung“ abgeleitet ist, zeigt uns wie schicksalhaft und untrennbar wir mit unserer Erwerbsarbeit verbunden sind.
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