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Über Dinge, die früher besser waren als heute, und die Schwierigkeit, gegen den Strom zu schwimmen

von Thomas Beckstedt

Am Tag nach der EU-Wahl rufe ich Kurt an, um ihm mitzuteilen, dass ich spontan ein verlängertes Wochenende in der Steiermark plane und ihn nicht, wie ursprünglich vereinbart, am kommenden Samstag besuchen werde.

„Alles klar“, meint Kurt, „ein paar Tage abtauchen würde mir gewiss auch gut tun …“ Und dann erzählt er mir von dem Malheur mit seinem Auto: „Gestern lief mir ein Reh in das Auto, seitlich vorne, ich konnte nichts machen …“ Worauf ich ihn sofort unterbreche und wissen will: „Ist das Reh verletzt oder gar …?“

„Nein, nein“, sagt Kurt, den ich als überzeugten Tierschützer schätzen gelernt habe, verständnisvoll. „Das Reh hatte vermutlich nur ein wenig Kopfweh und ist von dannen gezogen, aber mein Auto sah rechts vorne aus als hätte eine RPG-7 Granate eingeschlagen.“

„RPG-7 …?“, hake ich nach, weil die Telefonverbindung in diesem Moment eher schlecht war und ich nicht sicher bin, ob ich meinen Freund richtig verstanden habe.

„Ja, RPG-7“, bestätigt Kurt, „die berühmte russische Panzerfaust. Jedenfalls bin ich gleich heute in die Werkstätte gefahren und habe dem Mechaniker, den ich persönlich gut kenne, den Schaden gezeigt. Schmunzelnd fragte er mich, welchen Betonpfeiler ich abgeschossen hätte, worauf ich ihm erklärte, es wäre bloß ein Reh gewesen, das den Zusammenstoß im Gegensatz zu meinem Auto erstaunlich gut überstanden habe – und dann fügte ich hinzu, dass ich gewiss nicht zu den Leuten gehöre, die ständig behaupten, dass früher alles besser gewesen wäre als heute, aber in Bezug auf Autos würde diese Aussage meiner Erfahrung nach stimmen. Ich könne mich nämlich noch recht gut an Zeiten erinnern, wo man bei einem vergleichbaren Malheur bloß eine Beule im Blech hatte, die sich ausbiegen und mit etwas Kitt und Lack kaschieren ließ. Der Mechaniker, der wesentlich jünger ist als ich, stimmte mir lebhaft zu. Ja, sagte er, die robusten Autos, die früher einmal gebaut wurden, gäbe es jetzt nicht mehr. Dann zeigte er mir den beschädigten Karosserieteil, der sinnvollerweise aus Plastik ist, den er jetzt tauschen müsse und nannte mir den vermutlichen Preis für die Reparatur.“

„Okay“, erwidere ich, „dein Tag war damit gelaufen, nehme ich an.“

„So in etwa“, meint Kurt. „Und es ist echt frustrierend, weil sich alle einig sind, dass die Industrie Autos, Maschinen und Elektrogeräte produzieren kann, die wenigsten doppelt so lang halten wie der Schrott, den man uns aktuell verkauft.“

„Stimmt“, pflichte ich bei, und erzähle von meinen letzten vier Druckern, die allesamt pünktlich nach 2,5 bis 3 Jahren das Zeitliche gesegnet haben. „Und nicht zu vergessen die Geschichte mit meinem Geschirrspüler“, fahre ich fort. „Als ich vor ein paar Jahren meinen guten alten Geschirrspüler austauschen musste, weil er angeblich einen Elektronikfehler hatte, den zu reparieren es sich nicht lohne, entschied ich mich für einen Geschirrspüler der mittleren Preisklasse. Zu der Verkäuferin sagte ich, dass ich die Marke für eine gute halte, und wenn das Gerät wieder 10 oder 12 Jahre durchhält, sei ich zufrieden. Darauf lächelte die Verkäuferin und meinte, dass diese Erwartung an die aktuellen Geräte übertrieben sei. Ich solle froh sein, wenn der Geschirrspüle 7 bis 8 Jahre schafft. Ein Wahnsinn, nicht wahr?“

„Ein Wahnsinn“, brummt Kurt und bläst die Luft aus. „Ich habe das mal im Internet recherchiert: Die gezielte Verkürzung der Lebensdauer von Elektrogeräten nennt man geplante Obsoleszenz. Scheint schon seit Jahren ein riesiges Thema zu sein, aber der Industrie konnte oder wollte man bislang bis auf wenige Ausnahmen keine unlauteren Machenschaften nachweisen. Aber jeder weiß, dass dies die Praxis ist, und es ist auch kein Geheimnis, dass die durchschnittliche Verlängerung der Lebensdauer von Elektrogeräten um nur ein Jahr zig Millionen Tonnen von CO2-Austoß allein in Europa vermeiden würde.“

„Nun ja“, sage ich nach einigem Nachdenken, „ich schätze die aktuelle EU-Wahl wird an diesem Schlamassel wohl wenig ändern.“

„Das glaube ich auch nicht. Nachdem sich die Aufregung um das Wahlergebnis gelegt hat, werden sie weitermachen wie bisher. Sie schonen die multinationalen Konzerne und bedienen sich am Steuergeld der einfachen Bürger, die durch keine Lobby vertreten werden: Den hart arbeitenden Menschen und den Autofahrern.“

„Vermutlich, ja, so wird es kommen. Und es wird immer schwieriger bis ganz unmöglich, gegen den Strom zu schwimmen. In den 1990er Jahren, hatte ich noch das Gefühl, dass man abseits des Mainstreams in dem einen oder anderen Tümpel ruhig leben und abwarten konnte, was denn die nächste Flut so mit sich bringt. Aber inzwischen bin ich weniger optimistisch und ich fürchte, dass wir Europäer irgendwann als bargeldlose, willenlose, Insekten essende Bewohner von Miniapartments nach asiatischem Vorbild in Multi-Kulti-Wohnfabriken enden und der hauptsächliche Zweck unserer Existenz sich darin erschöpft, pünktlich mit dem Fahrrad in der Arbeit zu erscheinen, pünktlich die Steuern zu bezahlen, alle paar Jahre bei den Wahlen an der richtigen Stelle das Kreuz zu machen und bis 70 oder noch länger zu schuften, damit die uns Regierenden weiterhin ihre globalen Fantasien umsetzen können.“

„Ganz recht“, sagt Kurt, „die Aussicht ist düster, aber was kann man dagegen tun?“ Nach einer kurzen Gedankenpause hat er plötzlich einen Geistesblitz. „Wir könnten in den reißenden Mainstream-Strom springen und schneller als alle andere schwimmen. Frieden schaffen mit noch mehr Waffen! Rüstungsgüter aller Art sind zurzeit ja hoch im Kurs und ethisch gesehen auch sehr gut, zumindest solang man die richtigen Leute beliefert. Wir könnten uns als Waffenschieber eine goldene Nase verdienen und uns nach ein paar Jahren und etlichen weiteren Kriegen irgendwo zur Ruhe setzen, wo sie uns nicht so schnell erwischen und unsere Konten einfrieren, sollte der moralische Kompass wieder einmal in eine andere Richtung zeigen. Ich denke dabei an Kuba …“

„Gute Idee“, erwidere ich heiter. „Ich such mal mein altes Che Guevara T-Shirt heraus, dass irgendwo zwischen meinen Andenken an Jim Morrison und den Schallplatten von Janis Joplin stecken muss.“

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