Kurt lebt weiterhin sehr zurückgezogen und konzentriert sich auf ostasiatisches Gedankengut, um inneren Frieden und Seelenruhe zu erlangen. In letzter Zeit hatte ich mit ihm wenig Kontakt, dafür mehr mit meiner inzwischen fast 30-jährigen Nichte Henrietta, die auch mein einziges Patenkind ist. Aktuell macht sie Urlaub in den USA und schickt mir regelmäßig Fotos, als kleines Dankeschön dafür, dass ich sie zum Flughafen Wien Schwechat gebracht habe, wo ich sie am Ende ihrer dreiwöchigen Reise auch wieder abholen werde.
Gelandet ist Henrietta in Chicago, wo ein befreundetes Ehepaar sie abgeholt hat. Und während sie mir mit ihren Fotos Einblicke in ihre Reiseroute gibt, denke ich automatisch an meine eigene bislang letzte USA-Reise, die mich von Chicago über Atlanta tief in den Süden bis nach El Paso geführt hat, von wo ich wieder in den Norden nach New York flog. Von dieser Reise, die nunmehr fast 13 Jahre zurückliegt, haben sich zwei Erlebnisse besonders tief meinem Gedächtnis eingeprägt.
Erstens: Der Grenzübergang von El Paso nach Ciudad Juárez (Mexiko), dass damals und auch heute noch zu den gefährlichsten Städten der Welt zählt. Stichwort: der Drogenkrieg in Mexiko zwischen verschiedenen Banden und dem von Korruption geschwächten Staat. Es war damals nicht einfach, ein Auto zu finden, das mich von El Paso nach Juarez brachte. Die US-Leihwagenfirmen gaben keine Autos mit Ziel Mexiko her und die amerikanischen Taxifahrer waren nicht bereit dazu. Erst ein Mexikaner, der mit einer Amerikanerin verheiratet war, willigte ein, mich über die Grenze zu fahren. Die Grenze verläuft entlang des Rio Grande und war schon zu diesem Zeitpunkt mit Sperren und Zäunen schwer befestigt – es war im Jahr 2012, also lange bevor Donald Trump das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde und mit der Idee eines Mauerbaus entlang der Grenze zu Mexiko die europäische Öffentlichkeit irritierte, um nicht zu sagen entsetzte. Nach einer gründlichen Kontrolle an der Grenze fuhren wir also nach Juarez – und der Unterschied zum gepflegten und sicheren El Paso hätte nicht gravierender sein können. Alles schien verkommen, schmutzig und desolat zu sein. Der Taxifahrer zeigte mir ein paar Highlights von Juarez, zu denen unter anderen die Brücke gehörte, an der die Mordkommandos der Kartelle die verstümmelten Leichen ihrer Opfer erst vor Kurzem kopfüber aufgehängt hatten – als Warnung an etwaige Gegner.
Mein zweites Erlebnis auf besagter USA-Reise hängt mit dem ersten zusammen und ereignete sich in New York. Ich hatte mein Hotel in unmittelbarer Nähe zum Time Square, wo mir eine Unmenge an Polizeiautos auffiel, wie bei einem Großeinsatz, den es aber nicht gab. Massives Polizeiaufgebot war in diesen Tagen normal und oh Wunder: ich fühlte mich sicher. Zu den Zielen in New York, die ich unbedingt besuchen wollte, gehörte das berühmte Yankee Stadium. Kein Problem: Fahr mit dem Taxi zum Stadium und mit der U-Bahn zurück (um hinterher behaupten zu können, ich wäre auch mit der New Yorker U-Bahn gefahren, die ich in vielen Filmen bereits gesehen hatte. Einziges Problem: Das Yankee Stadium liegt in der Bronx und dorthin fahren keine gelben Taxis (angeblich aus lizenzrechtlichen Gründen), sondern nur schwarze. Aber ich wurde – und werde diesen Gedanken bis heute nicht los – dass die gelben Taxis auch gar nicht dort hinfahren wollten (Bronx und Juarez). Also nahm ich ein schwarzes Taxi. Vor der Rückfahrt mit der U-Bahn fragte ich einen Amerikaner, ob sie auch sicher sei. Das erste Mal in der Bronx? Für diese Frage muss man sich nicht schämen! Der Amerikaner meinte, die U-Bahn sei Ok, aber ich solle nicht aussteigen und ich solle mich auf keinen Fall östlich einer bestimmten Straße bewegen, denn dorthin wolle ich nicht. Dass ich dort nicht hinwolle, wiederholte er mit Nachdruck mindestens fünfmal.
Henriettes bislang letzte Fotos stammen aus North Dakota und South Dakota: Sehr ländlich und weitläufig mit viel Natur. Ich gewinne den Eindruck, dass sich dort ohne viel Aufwand ein weiterer amerikanischen Heimatfilm (mein Spitzname für den guten, alten Western mit John Wayne) drehen ließe, die vor längerer Zeit auch bei uns recht populär waren: Schlägereien im Saloon, Schießereien im Saloon, Schießereien vor dem Saloon, das Aufhängen von irgendwelchen Kerlen, die angeblich nichts Besseres verdient haben und als Höhepunkt das obligate Massaker der US-Kavallerie an einem Indianerstamm, dessen Land man sich aneignen wollte.
Die Fotos von Henrietta zeigen hingegen ein sehr friedliches Land: Natur, Tiere, historische Gebäude! Und nach vielen Feindseligkeiten wird für einen berühmten Indianerhäuptling sogar ein Denkmal errichtet. Zitat Wikipedia: Das Crazy Horse Memorial ist eine monumentale Skulptur zu Ehren des Oglala-Lakota-Indianers Crazy Horse, die ähnlich wie das Mount Rushmore National Memorial in einen Berg gehauen wird, jedoch um ein Vielfaches größer.
Schwer zu glauben, dass in denselben Vereinigten Staaten von Amerika wilde Straßenschlachten toben. Stichwort: Los Angeles! Die Nationalgrade wurde bereits mobilisiert und die US-Regierung droht (Stand 10.6.2025) sogar mit dem Einsatz regulärer Truppen! Der Kontrast könnte nicht größer sein zwischen den friedlichen Bildern aus Dakota und dem Chaos in L.A. über das sämtliche Nachrichtensender berichten. Andrerseits sind die Vereinigten Staaten von Amerika sehr groß und zwischen Dakota und L.A. liegen rund 2000 km Luftlinie – eine ähnliche Distanz wie zwischen Cherson in der Ukraine und Monaco an der Côte d’Azur – dazwischen liegen ja auch mehrere Welten.