Am Abend des 12. August sitzen Kurt und ich auf seiner Terrasse und warten auf den in den Medien angekündigten Perseiden-Meteorstrom, der in dieser Nacht seinen Höhepunkt über Österreich erreichen soll.
Längst ist die Sonne versunken und Dunkelheit hüllt uns ein. Um die Wartezeit zu verkürzen, beginnt Kurt zu erzählen: „Früher als Kind habe ich öfters einen Teil meiner Schulferien bei Verwandten auf einem Bauernhof verbracht, wo es einen Jungen in meinem Alter gab, mit dem ich mich recht gut verstanden habe. Das war immer sehr aufregend: Auf dem Traktor mitfahren, im Heuschober Höhlen bauen und am nahegelegenen Bach in einem Zelt schlafen. Manchmal sind wir auch auf einen großen Silo geklettert, der bestimmt zehn oder zwölf Meter hoch war, stellten dort Liegestühle auf und beobachteten die Sterne. Es war eine Zeit, in der ich viel geträumt habe − von meinem künftigen Leben und von den Abenteuern, die ich erleben möchte. Und in so mancher klaren Nacht haben wir auch oft etliche Sternschnuppen gesehen.“
„Und wenn man eine Sternschnuppe sieht“, erwidere ich, „darf man sich etwas wünschen, nicht wahr?“
„Ganz recht“, sagt Kurt, „aber man darf den Wunsch nicht laut aussprechen, sonst geht er nicht in Erfüllung.“
Nach einer Weile des Schweigens, es ist kurz nach 22.00 Uhr und noch immer keine Sternschnuppe am nächtlichen Himmel, frage ich Kurt ganz beiläufig: „Wie kommst du eigentlich mit dem Studium der asiatischen Philosophie voran? Du erzählst fast nichts darüber.“
„Das Studium dieser Texte in langwierig, man darf sich keine schnellen Ergebnisse erwarten – man braucht Geduld und Disziplin. Außerdem mache ich das nur für mich und nicht um andere zu beeindrucken oder gar zu belehren. Aktuell lese ich Liä Dsi, das wahre Buch vom quellenden Urgrund, in dem die Lehren der chinesischen Philosophen Liä Yü Kou und Yang Dschu zusammengefasst sind. Dieses Werk bietet keine geschlossene Weltanschauung und in gewisser Weise kann man es als vermittelndes Zwischenglied zwischen der grundlegenden Konzeption des Taoteking von Laotse auf der einen Seite und den taoistischen Lehren von Dschuang Dschou auf der anderen verstehen −“
„Da! Eine Sternschnuppe!“, rufe ich plötzlich.
„Wo?“, fragt Kurt und starrt auf den Himmel.
„Na dort, hast du sie nicht gesehen?“
„Nein“, sagt er, „aber bestimmt kommen noch mehr.“
Wir beobachten weiter den Himmel und währenddessen sage ich zu Kurt: „Taoismus, also: Und was hat das bislang bei dir bewirkt?“
Darauf Kurt: „Ich bin noch immer kein anderer Mensch geworden und ich möchte jetzt auch gar nicht über das Wesen des Taoismus philosophieren, dazu bin ich noch nicht weit genug in die Materie vorgedrungen. Aber eines kann ich reinen Gewissens jetzt schon von mir behaupten: Ich bin merklich ruhiger geworden und nehme die Natur bewusster wahr. Pflanzen und Tiere und das Universum als solches −“
„Da, die nächste!“, rufe ich nun, und dieses Mal sieht Kurt die Sternschnuppe auch. Ein feuriger Streifen, kaum eine Sekunde lang, aber wunderschön anzusehen.
„Zeit, sich etwas zu wünschen“, meint Kurt.
„Klar doch“, ich nicke.
Wir verstummen und formulieren still unsere Wünsche. Dann beobachten wir weiter den Himmel. Aber in Summe sehen wir nicht mehr als fünf schöne Sternschnuppen, obwohl wir mehrfach unseren Beobachtungsposten wechseln und wiederholt um das ganze Haus gehen.
Gegen 23.00 Uhr geben wir auf. Wir konnten keinen Meteoritenschauer beobachten, was vermutlich daran lag, dass wir die vielen kleinen Meteoriten wegen der Lichtverschmutzung und des starken Mondlichts nicht sehen konnten; die Nacht war einfach nicht schwarz genug.
„Und was hast du dir gewünscht“, frage ich Kurt neugierig und halb im Spaß. „Kannst du mir wenigstens eine Andeutung machen …?“
Auf seinem Gesicht erscheint ein breites Grinsen. „Tja, ich wünsche mir, dass gewisse Akteure der aktuellen Weltpolitik von der Bildfläche verschwinden. Aber ich verrate dir nicht, an wen ich dabei denke, denn dann würde der Wunsch ja nicht in Erfüllung gehen, wie wir wissen.“
„Alles klar“, erwidere ich gutgelaunt. „Du wünscht dir also, dass diese Typen der Teufel holt oder ihnen die Pest die Nase zerfrisst. Ha-ha-ha!“ Ich lache ein wenig.
Kurt wendet mir sein Gesicht zu und lächelt. „Wie du weißt, verstehe ich mich als Mann des Friedens und insofern wünsche ich niemandem Böses. Nicht einmal den schlimmsten Kriegstreibern. Ich wünsche mir nur, dass sie alsbald nichts mehr zu melden haben und nachdem sie in völliger Bedeutungslosigkeit versunken sind, aus den Schlagzeilen für immer verschwinden.“