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Insekten im Essen und Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“

Thomas Beckstedt

Als ich unlängst meinen Freund Kurt besuchte, saß er in nachdenklicher Stimmung am Küchentisch und studierte mit seinem Sherlock-Holmes-Vergrößerungsglas die Verpackung verschiedener Lebensmittel: Backwaren, Teigwaren, Riegel und so Sachen − ja, und ein veganer Burger war auch dabei.
„Was machst du da?“, frage ich ihn schließlich; er hat mir wohl mit dem elektrischen Türöffner Einlass gewährt, aber jetzt scheint er mich überhaupt nicht zu beachten.

„Nun ja“, sagt er nach einer Weile, ohne seinen konzentrierten Blick von der Packung Spaghetti abzuwenden, die er soeben untersucht. „Bestimmt hast du vom letzten Geniestreich der EU gehört, wonach es künftig erlaubt ist, Insekten ins Essen zu mischen. Eine Weile habe ich diese Geschichte, die mir vorkam wie aus einem dystopischen Endzeitroman, verdrängt und mir eingeredet, dass dies alles nicht wahr ist. Aber es gibt kein Erwachen aus dem Albtraum – also habe ich auf gut Glück etliche Lebensmittel gekauft und versuche nun herausfinden, wo dieses grausliche Zeug überall drinnen ist und wo nicht. Doch das ist gar nicht so einfach! Ich habe gelesen, dass Speisen mit Insekten gekennzeichnet sein müssen, ja, aber nicht sonderlich deutlich! Der Zusatzstoff E 120 zum Beispiel besteht aus ausgekochten und zerquetschten Scharlachschildläusen, aus denen ein roter Farbstoff gewonnen wird, um unsere Lebensmittel optisch ansprechender zu machen. Und der Zusatzstoff E 904, das sind die harzartigen Ausscheidungen der Gummilackschildlaus, auch Schellack genannt, wird häufig als Überzug von Schokolade, Nüssen, Kaffeebohnen oder Süßigkeiten verwendet.“ Kurt hielt inne und schaute mir ins Gesicht. „Das weiß ich aus dem Internet“, erklärte er. „Aber im Grunde ist es ein Witz! Wieso muss ich mühselig recherchieren, um herauszufinden, was definitiv nicht mehr auf meinem Teller landet? Ich weiß nicht, ob gemahlene Wanderheuschrecken und Mehlkäferlarven schädlich sind, aber inwiefern Allergiker das Zeug auf Dauer vertragen, vermag aktuell auch niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Das Entscheidende jedoch ist: Wer Heuschrecken und Co verspeisen will, soll es tun! Aber, es gibt Menschen, so wie mich, denen vor Insekten tierisch graut, und diesen Menschen muss durch eine Kennzeichnung, die ins Auge sticht, rasch erkenntlich sein, ob dieses widerliche Zeug in ihr Mehl oder ihre Nudeln hineinpascht wurde! Das ist eine Sache des Respektes!“

„Richtig!“, pflichte ich bei und lege meine Zigarettenschachtel auf den Tisch. Auf der Zigarettenschachten findet sich ein Schockfoto von einem Siechenden in einer Intensivstation mit dem sinngemäßen Hinweis, dass Rauchen tödlich sei.

Kurt ist begeistert. „Das ist es!“, ruft er laut und beginnt zu strahlen. „Nahrungsmittel mit Insekten müssen durch Bilder gekennzeichnet sein. Schließlich gibt es bei uns viele Analphabeten … warte mal!“ Kurt greif zu seinem Smartphone. Er googelt nach Analphabeten in Österreich: Das erste Ergebnis, das er mit vorliest, lautet: „Schätzungen zufolge haben 600.000 bis 1,2 Millionen Österreicher Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, das entspricht zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre.“ Er legt sein Smartphone zur Seite: „Na bitte. Diese kryptischen und sicherheitshalber kleingedruckten Hinweise sind verfassungswidrig und zudem höchst undemokratisch. Außerdem sollen die Leute, die Heuschrecken und Mehlwürmer verspeisen, den Viechern ins Auge blicken, bevor sie zubeißen.“ − „Ganz recht“, erwidere ich und wir reißen zum Thema etliche Witze.

„Doch das ist erst der Anfang“, fährt Kurt schließlich fort. „Jetzt geht es um eine Handvoll von Insekten, die man uns ins Essen pantschen darf. Aber bald schon wird man die Insektenliste erweitern und wir werden Maikäfer, Spinnen und weiß der Geier, was sonst noch, zermatscht und zerstampft verabreicht bekommen. Und weil das alles nicht reicht, werden sie irgendwann mit der Genmanipulation anfangen: Mehlwürmer, die schnell wachsen und einen halben Meter lang werden und Hirschkäfer, die so groß sind, dass man sie mit einem Schlachtappart erlegen muss – ups, ich glaub mir wird schlecht. Ich brauch einen Schnaps. Willst du auch einen?“ – „Ja, bitte“, sage ich dankbar, denn auch ich verspüre gerade eine leichte Revolution im Magen. Wir kippen einen großen Enzian – aber erst nach dem dritten ist mir besser. Nach dem vierten kommt mir ein spontaner Gedanke und ich beginne hellauf zu lachen. „Was ist“, fragt Kurt, der sich keinen Reim auf meine plötzliche Heiterkeit machen kann.

„Mit ist eine Redensart eingefallen“, erwidere ich kichernd. „Sie lautet: Man ist was man isst. Kennst du zufällig Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung?“ Kurt braucht zwei, drei Sekunden, dann geht ihm ein Licht auf und auch er beginnt zu lachen.

Im Internet finde ich rasch Kafkas Erzählung und beginne die ersten Zeilen von Die Verwandlung laut zu lesen: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. »Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum …“

In diesem Moment bekommt Kurt einen Lachkrampf, und als er ihn endlich überwunden hat, schreit er: „Richtig, es war kein Traum, sondern der gottverdammte Insekten-Müsli-Riegel mit den Maden-Nudeln.“

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