Einmal im Jahr, meistens am ersten Freitag im Jänner, wenn die Welt sich von den Silvesterfeierlichkeiten erholt hat, treffe ich mich mit Gerhard, einem alten Bekannten aus meinem früheren Berufsleben. Gerhard, mit dem ich mich während des Jahres so gut wie nie über soziale Medien austausche (bemerkenswert, aber wahr: wir ziehen das altmodische persönliche Gespräch noch immer vor!), ist ein intelligenter, gebildeter und aufgeschlossener Mensch, der sich zeitlebens für alle möglichen Wissensgebiete interessiert hat, seien es Fragen der Wirtschaft, neue technische Entwicklungen oder aktuelle Herausforderungen durch weltpolitische Ereignisse.
Als wir uns mittlerweile vor über einem Jahr Anfang 2023 traditionsgemäß in einer italienischen Bar in der Wiener Innenstadt trafen, kamen wir nach dem üblichen „Nun wie ist es dir ergangen?“ und „Was hast du so getrieben?“ bald auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine zu sprechen.
Mir wurde bald klar, dass unsere Auffassungsunterschiede zu diesem Konflikt kaum größer hätten sein können, was mich wunderte, weil wir sonst, wenngleich nicht zu allen, so doch zu vielen Themen ähnliche Anschauungen vertraten. Ich erklärte, dass dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre − Gerhard widersprach. Und auch über die Gründe des Konfliktes konnten wir keine ähnliche Sichtweise entwickeln. Gut, wenn man sich über die Vergangenheit nicht einigen kann, wendet man sich eben der Zukunft zu. Ich fragte Gerhard: „Und, wie glaubst du, geht dieser Konflikt weiter?“ Darauf antwortete er fest überzeugt, die ukrainischen Truppen würden in ihrer (zu diesem Zeitpunkt in den Medien bereits intensiv diskutierten) Frühlingsoffensive zum Schwarzen Meer durchbrechen, die Krim einnehmen und Russland in weiterer Folge zu einem vollständigen Rückzug und gewaltigen Reparationsleistungen für den entstandenen Schaden zwingen.
Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass ich dieses Szenario als Wunschdenken gerne respektieren würde, dass ich aber jetzt nicht über Wünsche sprechen würde, sondern gerne Gerhards reale Einschätzung der kommenden Ereignisse wissen wolle. Da sah er mich irritiert an und meinte, seine Vorstellung vom Ausgang des Konfliktes sei, wie er es mir dargestellt habe, denn alles andere wäre ja eine furchtbare Katastrophe. Ich erklärte ihm, warum ich, völlig losgelöst davon, was ich für gut oder schlecht halte, nicht an dieses Szenario glauben kann und brachte meine Argumente vor. Am Ende der etwas längeren Diskussion blieb jeder bei seiner Meinung und wir beschlossen, uns in einem Jahr wieder zu treffen.
Im Jahr 2023 passierte bekanntlich so einiges auf dieser Welt. Die vielzitierte ukrainische Gegenoffensive begann nicht im Frühling, sondern am 4. Juni und endete mit grauenvollen Verlusten irgendwann im November, nachdem die deutschen Leopard-Panzern, mit denen man sich den großen Durchbruch im Süden erhofft hatte, gleich am Anfang in den russischen Minenfeldern verbrannten. Zudem brach völlig unerwartet am 7.10. ein weiterer heftiger Krieg im Nahen Osten aus, von dem angeblich selbst der weltberühmte und sonst bestens informierte israelische Geheimdienst überrascht wurde.
Als Gerhard und ich uns am 5. Jänner dieses Jahres wie vereinbart wiedertrafen, sprachen wir zunächst wie üblich über uns selbst und wie es uns in den letzten 12 Monaten ergangen war. Es dauerte relativ lange, bis wir auf die Ereignisse zu sprechen kamen, die aktuell die Schlagzeilen dominierten. Über den Krieg im Nahen Osten tauschten wir uns nur kurz aus, aber lange genug, um erneut festzustellen, dass wir auch in dieser Angelegenheit sehr unterschiedliche Sichtweisen vertreten. Über die Ukraine sprachen wir gar nicht, was ich merkwürdig fand. Irgendwie dachte ich, dass Gerhard es mir schuldig war, zu erklären, warum er vor ziemlich genau einem Jahr zu seiner Prognose gekommen war, die bislang in keinem einzigen Punkt eingetroffen ist, und wie er mit neuen Erkenntnissen ausgestattet die Entwicklung für das aktuelle Jahr einschätzen würde. Aber nichts! Von ihm kam nichts. Kurz bevor es für mich an der Zeit war, zum Zug zu gehen und die Heimfahrt anzutreten, fragte ich ihn, weil es mir keine Ruhe ließ: „Ich will die Sache nicht vertiefen, aber mich würde interessieren, wie du jetzt darüber denkst. Deine damaligen Annahmen haben sich ja, wie es scheint, nicht materialisiert.“ Er schwieg eine Weile, aber statt einer Antwort meinte er schließlich, er würde sich künftig bemühen, sich nur noch mit Dingen zu befassen, die er auch selbst beeinflussen kann.“
Sehr interessant! Als ich Kurt Tage später über das eine oder andere Highlight meines Gespräches mit Gerhard informierte, meinte er amüsiert: „Nun, wenn sich dein Bekannter nur noch mit Dingen befasst, die er selbst beeinflussen kann, beschäftigt er sich künftig mit sehr, sehr wenig. Das ist natürlich eine mögliche Strategie, dem täglichen Wahnsinn zu entkommen − wenn man seine Komfortzone nicht aufgeben will, um sich als Friedensaktivist oder, krasses Gegenbeispiel, als Freiheitskämpfer mit einem MG in der Hand in einem der vielen Kampfzonen auf dieser Welt einen Namen machen möchte. Wie auch immer: Wir werden uns mit all diesen Dingen, ob es uns passt oder nicht, weiter befassen müssen, denn die Entscheidung darüber, wer die gefährlichsten Patienten in diesem globalen Irrenhaus sind, dürfen wir nicht blind anderen überlassen. Dies ist ein Grundpfeiler jeder Demokratie.“