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Über Friedrich Nietzsche, Menschen als Glücksfall und einen Trip nach Budapest

von Thomas Beckstedt

Nach langer Zeit schmökere ich wieder in den Schriften von Friedrich Nietzsche. Als junger Mann habe ich die Nietzsche-Gesamtausgabe (damals noch in österreichischen Schilling) teuer gekauft habe, jetzt habe ich sie für 0,99 € als eBook heruntergeladen und lese am Smartphone. Was versuche ich zu finden? Antworten …? Antworten auf die Frage, warum das merkwürdige Unbehagen, das ich empfinde, wächst und nicht schwindet? Wohl eher nicht – vielleicht aber Denkanstöße von einem großen Denker, einem zudem recht unzeitgemäßen und unbequemen Denker.

In seinem Buch Der Antichrist schreibt Nietzsche gleich nach dem Vorwort: Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, − wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. „Weder zu Lande, noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden“: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – u n s e r Leben, u n s e r Glück … Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand Ihn s o n s t ? – Der moderne Mensch in etwa?

Dieses Unbehagen in mir ist ein diffuses und schwer zu beschreibendes Gefühl. Die Welt verändert sich – und (wie mir scheint) nicht unbedingt zum Besseren. In den 1990er Jahren dachte ich sehr positiv, an das hier und jetzt und auch an die Zukunft. Und jetzt? Jetzt habe ich den Eindruck, dass wesentliche Errungenschaften in den internationalen Beziehungen, an denen jahrzehntelang gearbeitet wurde, direkt vor unseren Augen zerbrechen. Reparatur schwierig bis unmöglich.

Aber auch ich verändere mich, ob ich es will oder nicht. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich weiterhin als Europäer fühle, irgendwie fühle ich mich nirgends mehr zugehörig. Über die meisten TV-Komödien, die aktuell hoch im Kurs stehen, kann ich nicht lachen; das Verhalten mitsamt den Anschauungen meiner Mitmenschen erscheint mir zunehmend seltsam und befremdlich; den Mainstream-Medien stehe ich skeptisch bis misstrauisch gegenüber und über die Weltpolitik im Großen kann ich oft nur noch fassungslos schweigen. Wie heißt es so treffend in Shakespeares Hamlet: Obwohl dies Wahnsinn ist, steckt doch Methode darin.

Aber es gibt auch die Glücksfälle unter den Menschen, wie Elisabeth in etwa, eine Jugendfreundin, der ich nach langer Zeit durch Zufall wieder begegnet bin. Wir sind uns früher einmal sehr nahe gewesen, ohne dass je etwas Ernstes zwischen uns entstanden wäre. Elisabeth hat ihre guten Eigenschaften, die ich damals schon an ihr schätzte, nicht nur erhalten, sondern weiter ausgebaut. Sie hat sich im positiven Sinn massiv gesteigert. Ich erlebe sie als einen offenen, intelligenten und lebensbejahenden Menschen, in dem Ernsthaftigkeit und Heiterkeit auf eine ganz eigentümliche Weise verschmolzen sind. Und, was ich ihr sehr hoch anrechne: Sie hat mich bislang noch nicht „verhört“, wie so manch anderer aus meiner Vergangenheit, dem ich nach längerer Zeit wieder begegnet bin. Ich ertrage diese Leute nicht mehr, die einem nach zwanzig oder mehr Jahren Löcher in den Bauch fragen, alles von einem wissen wollen und aus dem falschen Staunen nicht herauskommen, um mich einzulullen und mir noch mehr Fragen zu stellen.

Die neu entstandene Nähe zwischen Elisabeth und mir reicht für einen gemeinsamen Städtetrip nach Budapest, den ich schon längere Zeit plane, aber nicht für ein gemeinsames Zimmer im Hotel. Besser so − jeder hat seine eigene Tür und seine eigene gemütliche Höhle.

Eine Stadt mit einem anderen Menschen zu erkunden, ist eine gute Gelegenheit, diesen besser kennenzulernen. Natürlich bestaunt man gemeinsam die großen Sehenswürdigkeiten einer Stadt: In Budapest sind es unter anderem das nächtlich beleuchtete Parlament, die Fischerbastei, der zentrale Markt und die abendliche Schifffahrt auf der Donau – darin liegt nichts Besonderes. Das Besondere zeigt sich in den Kleinigkeiten, die zwei Menschen unabhängig von einander bemerken und es wert finden, darüber zu sprechen.

In Budapest fallen uns sofort die lauten, fast schon aggressiven Sirenen der verschiedenen Einsatzfahrzeuge auf, die Elisabeth und mich spontan an New York denken lassen, wo wir beide auch schon einmal (jeder für sich) Zeit verbracht haben. Oder die röhrenden Autos (illegal getunt oder legal, dafür super teuer), die man hunderte Meter entfernt noch beschleunigen hört − oder das Haus des Terrors, ein mehrstöckiges, unterkellertes Gebäude mitten in der Stadt, das heute ein Museum ist. Während des 2. Weltkrieges haben hier die faschistischen Pfleilkreuzler ihre vermeintlichen Gegner gefoltert und hingerichtet; nach dem Krieg waren es die Kommunisten, die in denselben finsteren Kellern ihre Gegner quälten und exekutierten.

Elisabeth und ich sprechen hinterher nicht groß über das Gesehene, aber auch ohne viele Worte weiß jeder, was der andere denkt: Unfassbar, was der Mensch dem Menschen antut!

Nach dem Abendessen ziehen wir uns in unsere Zimmer zurück und während sich die verstörenden Eindrücke aus dem Haus des Terrors noch immer durch mein Hirn drehen, blättere ich zur Ablenkung in Nietzsches Schriften, als mich plötzlich ein Satz aufhorchen lässt. In Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche: Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Not, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks.

Ich denke lange über diesen Satz nach, an dem mich etwas irritiert; schließlich weiß ich es – der Satz müsste heißen: Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Not, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss Teil des Problems.

Zeit für Sich(-tbarkeit)