Kurt und ich haben uns spontan zu einem Heurigenbesuch verabredet. Anfang September sind die warmen Abende, an denen man gemütlich draußen sitzen kann, für dieses Jahr gezählt. Kurt verspätet sich und als er endlich erscheint, wirkt er ziemlich angespannt.
„Ist etwas passiert?“, frage ich ihn automatisch.
Er setzt sich und klatscht ein Stück Papier vor mir auf den Tisch. Es handelt sich um eine Einladung zu einem Infoabend zum Thema: Umwidmung von landwirtschaftlich genutzter Fläche in Bauland rund um das Dorf, in dem Kurt wohnt.
„Nicht gut“, knurrt er verdrossen und trinkt sein erstes Glas Wein etwas schneller als sonst. „Ich habe immer gehofft, dass wir unser ruhiges Landleben in diesem überschaubaren Dorf noch viele Jahre genießen können – und jetzt das! Ich weiß noch nicht genau, was sie vorhaben, aber ich fürchte, dass sie unser Dorf in eine riesige Baustelle verwandeln. Unfassbar! Nach jedem Unwetter, wenn die Bäche und Flüsse erneut aus den Ufern treten und die Kanäle die Wassermassen nicht mehr fassen können, wird viel über den Klimawandel, das böse CO2 und all diese Dinge gesprochen – von der rasant fortschreitenden Versiegelung des Bodens hört man jedoch wenig bis gar nichts. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Österreich bei der Versiegelung des Bodens durch Neubauten und Straßen im europäischen Spitzenfeld liegt. Dabei müsste man die ganze Geschichte umkehren und der Natur verlorene Gebiete zurückgeben.“
„Tja“, erwidere ich, „die Bevölkerung wächst, ein weltweiter Trend, und die Wirtschaft reibt sich die Hände, schließlich ist jeder zusätzliche Erdenbürger ein potenziell neuer Kunde.“
Kurt nickt und studiert die Speisekarte. Schließlich legt er sie zur Seite, als wäre ihm der Hunger vergangen, und sagt: „Unlängst habe ich eine hoch interessante Dokumentation über Tschernobyl gesehen, du weißt schon, der atomare Supergau von 1986. Diese Doku namens Chernobyl wurde 2005 gedreht und beleuchtet die Rückkehr der Natur in die Sperrzone um das besagte Kernkraftwerk. In der Sperrzone leben keine Menschen und die Natur ist sich völlig selbst überlassen. Nachdem die Menschen verschwunden sind, kehren die teilweise verdrängten Tiere zurück: Braunbären, Elche, Rothirsche, Wildpferde, Wölfe, jede Menge Vögel und viele andere Arten. Die Doku Chernobyl wirkt stellenweise fast wie ein Märchen, den Tieren scheint die radioaktive Strahlung rund 20 Jahre nach dem Unglück kaum noch etwas anzuhaben. Mein erster Eindruck war, die Doku überzeichnet die positiven Aspekte, aber dann habe ich ein wenig recherchiert und gelernt, dass Tiere mit der Strahlenbelastung offenbar besser umgehen können als Menschen und sich angepasst haben. Zum Beispiel haben die Wölfe in der Sperrzone anscheinend Krebsresistenzen entwickelt, wie amerikanische Forscher herausgefunden haben; und ähnliche Anpassungen wurden auch bei anderen Tieren festgestellt. In gewisser Weise kann man die Sperrzone von Tschernobyl als ein ungewolltes Experiment betrachten, in dem der Mensch der Natur eine Region zurückgibt: Ein neuer Garten Eden mit einem schrecklichen Geheimnis.“
„Bemerkenswert“, sage ich. „Den Film muss ich mir unbedingt anschauen.“
„Aber du musst bedenken“, fährt Kurt fort, „dass diese Doku 2005 gedreht wurde, also Jahre vor Beginn des Katastrophentourismus, der offenbar ab 2011 richtig Fahrt aufgenommen hat und in den darauffolgenden Jahren zwischen 60.000 und 120.000 Touristen jährlich in die Sperrzone und zum Kraftwerk brachte.“
„Ehrlich? So viele Touristen in einer atomar verseuchten Sperrzone? Wirkt ein wenig absurd auf mich.“
„Ja, die Leute brauchen Geld und Geld regiert die Welt, wie wir wissen. Aber seit dem 24. Februar 2022 ist vorerst Schluss mit dem Tourismus. Du weißt schon: Bomben und Granaten und all diese Ereignisse, die man sich nicht wünscht.“
Kurt und ich reden noch eine Weile über die Sperrzone von Tschernobyl und dann überlegen wir, welchen Beitrag wir beide leisten könnten, um der Natur ein Stück Land zurückzugeben. Uns fällt nicht viel ein bis Kurt sarkastisch meint, er könne einen Teil seines Hauses abreißen, um aus Wohnfläche grüne Wildnis zu machen, aber das würde, wie er bald einschränkt, auch nicht viel bringen. „Denn während die Abrissbirne mein Haus demoliert, werden nicht weit von mir entfernt dutzende neue gebaut.“
Darauf ich: „Letzte Woche habe ich die Ausstellung Träume … Träumen in der Schallaburg besucht und dort ist mir ein Exponat besonders ins Auge gestochen: Es ging um eine Megastadt für 10 Milliarden Menschen – warte mal, ich habe ein Foto von der erklärenden Schautafel gemacht.“ Ich suche das Foto auf meinem Handy und lese laut vor: „Die Rückeroberung der Natur. Die Idee des spekulativen Architekten Liam Young ist radikal: Schluss mit der Vorherrschaft des Menschen! Er siedelt die gesamte Menschheit – zehn Milliarden Personen – in der Megastadt Planet City an, um der Natur zurückzugeben, was ihr gestohlen wurde. So kann sie sich endlich von Jahrhunderten der Ausbeutung und Zerstörung erholen. Wie das Leben in Planet City aussehen könnte, zeigt Liam Young in seinem Film Planet City. A City for 10 Billion People.“
Kurt schaut mich starr an. „Ich weiß nicht, wie es in einer solchen Megastadt aussieht, aber ich möchte dort nicht wohnen, dessen bin ich mir sicher.“
„Müssen wir auch nicht“, entgegne ich prompt. „Wir bleiben als Wildhüter hier und schützen mit ein paar weiteren Gleichgesinnten die sich erholende Natur vor etwaigen Wilderen und sonstigen zwielichtigen Gestalten.“
„Klingt gut“, grinst Kurt. „Ich kenne etliche Leute, die ich liebend gerne gegen eine pummelige Braubärenfamilie eintauschen würde – und ich hätte auch gar nichts dagegen, wenn die Bären meinen Apfelbaum plündern.“






