Der moderne Mensch ist ein Zauderer. Die Vielfalt der Optionen paralysiert ihn. Er sucht daher nicht nach noch mehr Wissen oder Möglichkeiten, sondern nach etwas, das ihn enthemmt, um sich entscheiden zu können.
Das Phänomen eines Freiheitsschocks war in Ostdeutschland nach der Wende zu beobachten. Das Unbehagen der Sicherheit, die zu wenig Freiheit gewährleistete, mündete in ein Unbehagen durch die Freiheit, die zu wenig Sicherheit gewährleistet. Die Fülle an plötzlich entstandenen Handlungsmöglichkeiten führten zu einer Lethargie, die bis heute nicht bewältigt wurden. In der Zeit reicher Handlungschancen findet der moderne Mensch immer einen Grund nicht zu handeln. Denn für jeden Grund etwas zu tun, gibt es auch immer eine hinreichende Zahl an Gegengründen etwas nicht zu tun. Was also gemeinhin als Faulheit bezeichnet wird, ist also das unentwegte Schwanken und Zaudern in einem Wald voller Möglichkeiten. Wir sind alle zu modernen Hamlets geworden, die schwankend zwischen Optionen stehen. Durch die Vielfalt an Optionen und Gegenoptionen ist der Mensch zu jeder dieser Optionen nicht genügend motiviert. Er ist schlechthin paralysiert. Die wichtigste Aufgabe des Beraters ist daher, zu enthemmen, erklärt der Philosoph Peter Sloterdijk.
Berater als Nomaden
Die so wichtigen Dienste der Berater nutzten diese manchmal schamlos aus. In China verkauften die umherziehenden Weisen ihre Ratschläge an zehn bis zwölf verschiedene rivalisierende Kriegsherren. In der Antike waren Berater meist nomadisierende Intelligenzen. Die griechischen Städte hatten eine Invasion der Philosophen erlebt. Diese waren meist sogenannte Metöken, also in einer Stadt lebende Fremde, die dort kein lokales Bürgerrecht besaßen. Der berühmteste unter ihnen war Aristoteles, der in Athen niemals das Bürgerrecht erworben hat und damit aus einer gesunden Äquidistanz die Welt beobachten und analysieren konnte. Platon war in Syrakus als Berater tätig. Sie alle konnten ihren Blick, weil sie keine Bürger der Stadt waren, aus einer persönlichen Distanz auf die Gesellschaft richten. Kein Ansässiger zu sein, machte es für die Weisen leichter sich mit den großen Fragen der Menschheit auseinanderzusetzen, weil sie den Kopf frei hatten für allgemeine Beobachtungen und nicht benommen waren durch die Zwänge gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen.
Der Draht nach oben
Berater waren lange Zeit den Mächtigen vorbehalten, die die vagen und oft verrückten Visionen der Fürsten kanalisieren mussten. Platon versuchte zwischen der Seele des Herrschers und einer überirdischen Einflussquelle eine Verbindung herzustellen. Dabei war die Vorstellung, dass die Mächtigen mit einer überirdischen Kraft direkt in Verbindung stehen in fast allen Kulturen weitverbreitet. Egal ob die Königshäuser in Europa oder die Pharaonen in Ägypten, die direkte Söhne der Götter waren, sie alle hatten den vertikalen Anschluss. Dies hatte durchaus praktische Vorteile für die Machthaber, die sich sicher sein konnten, dass sie nur der verlängerte Arm einer überirdischen Idee waren. Diese Konstruktion nahm den Auserwählten die menschliche Schwäche des Zögerns und enthemmte sie nicht immer im Guten, was so manchen Blutrausch eines antiken Fürsten erst erklärte. Aber nicht nur Königshäuser bedienten sich einer solchen Konstruktion der Enthemmung. Die USA ist heute noch eine latente politische Theologie. Man wird nicht Präsident, wenn nicht Gott gewollt hat, dass man Präsident wird. „So help me God“, sind die letzten Worte der Vereidigung des Präsidenten vor Amtsantritt. Jede Entscheidung des Präsidenten ist gleichsam schicksalhaft, ja eben auch gottgewollt und damit sollte ein Zögern gar keine Option darstellen, denn jede Entscheidung ist eine, die von oberster Stelle gebilligt wurde. Es bedarf also nur noch den Draht zu ganz oben herzustellen. Donald Trump holte sich eine Fernsehpredigerin als spirituelle Beraterin und Vertraute ins Weiße Haus. Ein anderer Pastor, der im Weißen Haus arbeitete, dankte ganz offiziell Gott für Trump. Lesen Sie mehr in der aktuellen risControl Print Ausgabe.
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