„Schon irgendwie seltsam“, sagt mein Freund Kurt zu mir. „Da reden Sie immer groß von Digitalisierung und beschwören das papierlose Büro, aber den Klimabonus schicken sie mir mit der Post.“ – „Echt?“, frage ich verwundert. „Hast du denn keinen …“ Weiter komme ich nicht. „Natürlich nutze ich FinanzOnline“, sagt Kurt laut. „Schon Jahren. Trotzdem überweisen sie das Geld nicht, sondern schicken mir Gutscheine: 10 Stück a 50 €. Ich trage sie zum Postamt und tausche sie sein. Während der Postangestellte jeden einzelnen Gutschein scannt und hinterher abstempelt, erkläre ich ihm, dass ich nicht verstehe, warum ich den Klimabonus in Papierform erhalten habe, wo ich doch FinanzOnline nutze. Irgendwie tut mir der Mann, der jetzt scannen und stempeln muss, sehr leid. Aber der Postangestellte schüttelt nur den Kopf: „Nicht wundern“, meint er, „Sie sind nicht der einzige.“ Dann händigt er mir 500 € aus und ich fühle mich kurzfristig richtig gut. Am Tag darauf erhalte ich die Heizölrechnung, die dieses Mal echt heftig ausgefallen ist und zudem 600 € Mehrwertsteuer beinhaltet. Halleluja! Danach fühle ich mich weniger gut und gönn mir aus medizinischen Gründen einen doppelten Cognac.“
„Der Staat gibt es, der Staat nimmt es“, erwidere ich spontan. „Man könnte fast poetisch werden, wäre es nicht so traurig.“
Kurt nickt. „In der Tat sehr traurig, denn der Staat, der es gibt und wieder nimmt, hat mein Geld davor schon x-fach genommen: Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer …“ Ohne merklich Luft zu holen zählt Kurt siebzehn weitere Steuern auf, die einem durchschnittlichen österreichischen Staatsbürger jahrein jahraus abverlangt werden: „Und wehe, wenn du nicht zahlst! Wir kennen Mittel und Wege …!“ Kurt unterbricht sich und verzieht das Gesicht, als hätte er Schmerzen. „Aber seien wir nicht undankbar!“, fährt er dann fort. „Besser 500 € Zuschuss zur Mehrwertsteuer auf die Heizölrechnung als einen Stein auf den Kopf − oder eine Bombe aufs Dach: Kawumm, Feuer und Qualm, der Öltank brennt! Obdachlos und mittellos binnen weniger Minuten − denn gegen Krieg und so Sachen sind die Wenigsten versichert.“ Kurt verstummt und sieht mich ganz merkwürdig an. Auch ich sehe ihn an, fragend und besorgt, aber plötzlich entspannt sich Kurt und sagt unvermutet heiter: „Habe ich dir schon die Geschichte erzählt, als unlängst bei einem Arbeitskollegen von mir der Gerichtsvollzieher klingelte?“ − „Nein“, ich schüttle den Kopf. „Aber wie kommst du jetzt darauf?“ Der Gedankensprung von Bomben aufs Dach zu einem Gerichtsvollzieher wirkt auf mich etwas weit. Kurt lächelt. „In dieser Geschichte geht es um eine geniale Digitalisierungsinitiative des österreichischen Staates. Pass auf: Carl, mein Arbeitskollege, sitzt gemütlich in seiner Küche, als es klingelt. Er öffnet die Tür und fragt den Mann, der geläutet hat, nach seinem Begehr. Der Mann weist sich als Gerichtsvollzieher aus und sagt mit gedämpfter Stimme, er wäre hier um einen Exekutionsauftrag auszuführen: Eine Lenkererhebung wäre von Carl nicht beauskunftet worden und trotz mehrerer Mahnungen habe er die Kosten des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens nicht beglichen: Gesamtbetrag inklusive Gerichtskosten: 150 €. Carl, der noch nie etwas mit Gerichtsvollziehern und sonstigen Geldeintreibern zu tun hatte, ist völlig konsterniert. Er schwört, weder Lenkererhebungen noch Mahnungen missachtet zu haben! Und wegen einer überschaubaren Strafe wegen einer Verkehrssünde würde er gewiss keine Pfändung riskieren. Der Gerichtsvollzieher, wohl abgehärtet, aber kein Unmensch, gibt Carl ein paar Tage Zeit, um die Situation zu klären. Aber dann müsse er zahlen! Sonst werde er leider seinen Fernseher mitnehmen müssen! Meinen schönen neuen digitalen Fernseher, fragt sich Carl. Nein, niemals! Er ist auf hundert und beginnt zu telefonieren.“
„Und wie ging die Sache aus“, frage ich neugierig.
Kurt sagt: „Nach unzähligen Telefonaten mit allen möglichen Ämtern und Behörden fand Carl schließlich die Lösung zu diesem Mysterium: Carl hat sich vor rund fünfzehn Jahren eine Bürgerkarte gelöst, die zu diesem Zeitpunkt aus beruflichen Gründen für ihn nützlich war. Vor acht oder neun Jahren wechselte er den Arbeitgeber und verwendete die Bürgerkarte nicht mehr. Was er nicht wusste, war, dass er sich mit dieser Bürgerkarte ein elektronisches Postfach eingetreten hatte, das Jahre später auf Grund eines Ministerbeschlusses auf eine zentrale staatliche Plattform migriert wurde. Auch das wusste er nicht und etwaige Mails, die man ihm schickte, erhielt er natürlich auch nicht, weil er ja den Arbeitgeber gewechselt hatte und bei seiner Bürgerkarte die E-Mail-Adresse seiner früheren Firma hinterlegt war. Und in dieses elektronische Postfach, das sie ohne sein Wissen migriert haben, warfen sie − ohne ihn vorher zu fragen und ohne zu überprüfen, ob die angegebene E-Mail-Adresse noch gültig ist – alle möglichen amtlichen Schriftstücke ein: Lenkerhebungen, RSa- und RSb-Briefe, lauter ‚unwichtige‘ Dinge. Und obwohl Carl kein einziges von diesen Dokumenten je gesehen hatte, galten sie offiziell als zugestellt und das Gerichtsverfahren gegen ihn war gültig.“
„Unfassbar“, sage ich. „Ich nehme an, Carl musste zahlen …“
„Ja, das musste er: 150 € statt 40 €, die das eigentliche Verkehrsdelikt ausgemacht hätte. Natürlich ist Carl seitdem auf staatliche Digitalisierungsinitiativen nicht sonderlich gut zu sprechen.“ Kurt seufzt, dann fährt er fort mit Unterton: „Aber man darf deswegen die vielfältigen Anstrengungen, unsere Welt zu digitalisieren, nicht verteufeln. Die Digitalisierung hilft uns gewiss, den glorreichen Kampf gegen den Klimawandel zu gewinnen, und auch auf dem Schlachtfeld ist digitale Technik längst unentbehrlich: Wie sollte man sonst Raketen über große Distanzen treffsicher auf eine Brücke oder in ein Umspannwerk schießen?“