Man sei zu expertenhörig gewesen, meinte Bundeskanzler Karl Nehammer in Bezug auf die Corona-Politik des Landes. So könnte diese Aussage bedeuten, in Zukunft den Experten bei ähnlichen Katastrophen weniger Gehör zu schenken. Vielleicht sollte man sich gar die Ohren zuhalten oder das Mikrofon abschalten, wenn wieder so ein „Besserwisser“ glaubt, uns belehren zu müssen. So sollten die Experten jetzt ihre Entscheidungen erklären, ist die Forderung des Kanzlers. Der hier erkennbare Wissenschaftsskeptizismus wirkt befremdlich, wenn nicht gar alarmierend in einer offenen Gesellschaft. Auch wenn wir ihn aus dem Kontext der katholischen Wurzeln der Kanzlerpartei erklären können. Dabei geht es vor allem um die Definition von Wahrheit in der Wissenschaft, die mit dem infiniten Wahrheitsbegriff des Katholizismus kaum vereinbar ist. In der Wissenschaft ist die Wahrheitsfindung von deren Widerlegbarkeit abhängig. Sie erfordert eine Offenheit, auch falsch liegen zu können, um den Gegenstand der Forschung zu verbessern. Der Habitus in der katholischen Kirche ist hingegen die Ehrfurcht und Hörigkeit. Wir erstarren in der Kirche vor der undurchsichtigen kafkaesken Hierarchiestruktur, wo irgendwo auf der letzten Hierarchiestufe Gott sitzt und deren unterstes Glied die Gläubigen darstellen. Damit wird eine kritiklose Hörigkeit der Gläubigen erzielt, die oftmals in der Geschichte seltsame Blüten getrieben hat, man denke nur an den Ablasshandel.
Die Hörigkeit ist dem Katholiken ein Ausdruck seiner Demut, die von eigener Schuld und Bitte um Gnade getragen ist. Was aber, wenn das Bild von Allmacht, das der Katholik für seine ungestörte Ehrfurcht braucht, vor seinen Augen zerbricht? Der falsche Prophet wird an den Pranger gestellt, zum „Scharlatan“ verurteilt und selbst zum Schuldigen. Dies hat direkt Auswirkungen auf die brennenden Fragen der Zeit. Wissenschaftler erzählen uns dystopische Geschichten über die möglichen Auswirkungen einer anhaltenden Erderwärmung. Und damit stellt sich die Frage: Wie stark darf der Staat in die Freiheit seiner Bürger eingreifen, um das Schreckensszenario, das die Wissenschaftler zeichnen, zu vermeiden? Die Beantwortung dieser Frage hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Wissenschaft und ihren Prognosen zusammen. In einem Land voller Wissenschaftsskeptiker wird es schwierig werden, die individuelle Freiheit zu beschränken, weil die Vorteile der Maßnahmen in der Zukunft als zu unsicher angesehen werden, als dass die Einschränkungen in der Gegenwart gerechtfertigt wären. Die Wortspende Nehammers könnte also auch ein Entgegenkommen an die zahlreichen Klimakrisenskeptiker sein, die ihre persönliche Freiheit gefährdet sehen.
Der Machtkampf zwischen weltlicher Herrschaft, also der Politik, und den Propheten, in diesem Falle der Wissenschaft, ist so alt wie die Menschheit. Schon im Alten Testament wird vom Machtkampf des ersten Königs Israels, Saul, mit dem Propheten Samuel erzählt. Dabei ging es auch um die Deutungshoheit, um Erzählungen und Narrative als Machtmittel. Während die Wissenschaft den mühsamen Weg der Erkenntnis beschreitet – die Erzählung der Klimakrise gibt es z. B. schon seit den 1960er-Jahren –, können die meisten anderen Akteure einen einfacheren Weg der Erzählung gehen, und zwar den Weg der Behauptung. Die Behauptung verfolgt ein darwinistisches Prinzip. Sie versuche sich selbst als das Wesentliche und das andere als unwesentlich zu erkennen, würde Hegel sagen. Ob wahr oder falsch ist dabei kein Kriterium. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir es auch gar nicht besser wissen, solange die Behauptung uns einen Vorteil bringt. Jean-Jacques Rousseau erzählt, wie eine Behauptung die bürgerliche Welt begründet habe: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam, zu sagen: ‚Dies gehört mir‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“ Die Überzeugung, die durch eine Behauptung gewonnen wird, egal ob diese falsch oder richtig, ist konstituierend, sobald sie von vielen geteilt wird. Behauptungen sind auch deswegen so wirkungsmächtig, weil sie sehr schnell abgesondert werden können. Sie sind mit der Überzeugung ausgesprochen, Wahrheit in sich zu tragen. Jede Religionsgründung beruht auf diesem Prinzip, nicht widerlegt werden zu können. Behauptungen können mit ein paar Zungenschlägen in die Welt gesetzt werden. Wer etwas behauptet, muss nicht zuvor monatelang recherchiert haben, dies würde seine Ausgangslage nur gegenüber demjenigen verschlechtern, der sich schnell durch eine Behauptung in die Gehörgänge und die Gehirne hineinfrisst. Denn bis die Recherche abgeschlossen ist, hat die Propaganda der Behauptung schon längst eine gewichtige Masse manipuliert. Die Welt, die wir uns errichtet haben, scheint damit eher eine Reminiszenz an den Wettlauf der Spermien zum Ei zu sein, als eine ethische Weiterentwicklung der Spezies. Ob jemand gut oder böse ist, bestimmt derjenige, der die Behauptung überzeugend und schnell in die Welt setzt. Die Behauptung kann den Heiligsten unter ihnen zum Teufel machen. Die manipulierte Gesellschaft nimmt die Welt nur noch durch diesen Zerrspiegel wahr. Damit wird die Behauptung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und damit zur subjektiven Wahrheit. Der Überzeugte wird zum Zeugen. Von nun an glaubt der Manipulierte jede Behauptung seines Herrn. Und der Manipulator wird nicht müde, damit den Gläubigen zu seinem Instrument zu machen. Die Lüge wird zur Wahrheit, sogar dann, wenn die Anhänger wissen, dass es sich um eine Lüge handelt. Denn diese Anhänger werden mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Gläubigen belohnt, die es nicht nötig haben, der Wissenschaft zuzuhören, solange ihre Behauptungen geglaubt werden.