Es ist Sonntag, der 2. Juli, als mein Freund Kurt zu mir sagt: „In diesen Tagen hat sich in meinen Kopf ohne mein Zutun ein surreales Bild aufgebaut, das ich nicht mehr loswerde: Auf der einen Seite die Waldbrände in Kanada, die derart enorme Rauchwolken entwickeln, dass sie wie ein böses Omen über den Atlantik bis nach Europa ziehen; auf der anderen die Revolte in Frankreich, wo Autos und Häuser in Flammen aufgehen.“ „Zufall“, sage ich, ohne zu zögern. „In Kanada herrscht ungewöhnlich trockenes Wetter und in Paris hat ein nervöser Polizist einen Teenager erschossen, wodurch das soziale Pulverfass Frankreich explodiert ist.“
„Ja, schon“, sagt Kurt, „aber da ist noch mehr! – Also: In Kanada regiert dieser … wie heißt er nochmal? – Ja, Henri Landru: Ein Mann, der sich gerne international engagiert, aber die Brände in seinem eigenen Land nicht unter Kontrolle bringt.“ „Moment“, werfe ich ein. „Der kanadische Oberhäuptling heißt nicht Landru, sondern Trudeau. Henri Landru war ein französischer Serienmörder, der rund um den ersten Weltkrieg mehrere Frauen umgebracht haben soll und dafür um einen Kopf kürzer gemacht wurde: Fallbeil, rums, Sarg – die französische Methode.“
„Wenn du es sagst“, erwidert Kurt mit einem unergründlichen Lächeln. „Dann eben Trudeau und nicht Landru, beide Namen klingen französisch, man kann sie leicht verwechseln. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass besagter kanadischer Oberhäuptling seine Waldbrände nicht in den Griff bekommt: Alles brennt nieder und Qualm steigt auf und dieser Qualm folgt den aktuell sehr intensiven transatlantischen Beziehungen zwischen der neuen Welt, also Nordamerika, und der alten Welt, also Europa. Die Waldbrand-Aerosole, die der Wind in unsere Richtung trieb, erreichten natürlich auch Frankreich – und in meiner Fantasie sind aus diesen Aerosolen glühende Funken geworden, die auf die französischen Städte herabregnen und sie in Flammen aufgehen lassen. Surreal! Gewiss! Aber ich rede auch nicht von einer fundierten politikwissenschaftlichen Erkenntnis, sondern von einem subjektiven Bild in meinem Kopf, das durch eine Art unbewusster freier Assoziation entstanden ist. Vermutlich angeregt durch die Tatsache, dass Frankreichs Oberhäuptling …“
„Der im Übrigen auch nicht Landru heißt“, merke ich heiter an.
„Natürlich nicht“, erwidert Kurt und zwinkert mir zu. „Er hat ja noch seinen Kopf auf den Schultern. Ha-ha-ha! Aber eines ist unbestritten: Wie für seinen kanadischen Oberhäuptling-Kollegen Waldbrände nichts neues sind, so sind nächtliche Krawalle mit brennenden Autos und so weiter auch für den französischen Oberhäuptling nichts neues. Und ähnlich wie sich gewisse Kanadier gerne mit internationalen Agenden befassen, befassen sich auch gewisse Franzosen gerne mit internationalen und globalen Agenden, statt den Flächenbrand im eigenen Land zu löschen.“
„Du bist ungerecht“, sage ich spontan. „Immerhin hat Landru … Himmelherrgott, du bringst mich ganz durcheinander, ich meine natürlich Macron, 45.000 Polizisten mit etlichen Panzern mobilisiert, um die Krawalle einzudämmen – immerhin eine ähnlich große Armee, mit der die Ukraine in der aktuellen Gegenoffensive versucht, die tiefgestaffelte russische Verteidigung zu durchbrechen. Außerdem hat Macron Nervenstärke bewiesen: Während sich seine Polizeieinheiten mit den Randalierenden wüste Straßenschlachten lieferten und mit Panzern Barrikaden niederwalzten, ging er mit seiner First Lady zu einem Elton John Konzert, wo er sich, wie Videos zeigen, bestens unterhielt.“
„Widerlich!“, ruft Kurt dieses Mal sehr ernst. „Echt widerlich! Ich las, dass Macron tanzte, während Paris brannte. Nun, ich habe kein Video gesehen, das ihn tanzen zeigte, er wippte lediglich verzückt und ganz in die Musik vertieft mit der Schuhspitze. Die französische First Lady hingegen hat sich beim Elton John Konzert ordentlich einen abgefeiert und ist herumgehüpft wie ein Teenager. Unverständlich, unfassbar! Mir fehlen die Worte. Was sind das für Leute? Auf welchem Planeten leben sie …?“ Plötzlich hält Kurt inne, als habe er eine Erleuchtung, dann sagt er mit völlig veränderter Stimme: „Mir kam soeben eine weitere freie Assoziation in den Sinn: Dieser Landru, äh Macron wollte ich sagen, erinnert mich an den römischen Kaiser Nero, der das Herz voller Poesie musizierte, während er das brennende Rom von seinem Palast aus betrachtete.“
Ich nicke, und dann sage ich langsam: „Ich weißt nicht, ob es dich jetzt enttäuscht oder beruhigt, aber auf diesen Vergleich mit Nero sind vor dir schon andere gekommen – vor allem in Frankreich.“
„Echt?“
„Ja, hab ich im Internet gelesen.“
„So, so“, meint Kurt leise und schweigt eine Weile. „Weißt du“, sagt er schließlich, „im Grunde möchte ich mich mit all diesen Dingen eigentlich gar nicht beschäftigen, aber durch die EU sitzen wir mit den Franzosen und vielen andere Völkern im selben Boot, das inzwischen sehr groß geworden ist. Und solang man es nicht geschafft hat, auszusteigen und weit weg zu laufen, muss man hoffen, dass es nicht sinkt – wie einst die Titanic. Damals, als das Schiff unterging, spielte man auch Musik – zur Beruhigung der Nerven. Nur fürchte ich, dass im Falle des Falles die zu diesem Zeitpunkt verantwortliche Führungscrew still und heimlich die Rettungsboote wassert, um sich mit ihren wichtigsten Beratern und Experten rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Das sinkende Schiff bleibt ohne Musik sich selbst überlassen und die führungslosen Passagiere erfasst die nackte Panik: Rette sich wer kann!“