„Mir reichts!“, sagt Kurt mürrisch und greift zur Fernbedienung. „Der eine Krieg ist noch nicht zu Ende und schon explodiert das nächste Pulverfass.“ Heute ist der 7. Oktober 2023 und wir sitzen schon die zweite Stunde vor dem Fernseher und verfolgen die Kampfhandlungen in Israel und Gaza abwechselnd auf CNN und Al Jazeera. „Diesen Konflikt gibt es seit ich denken kann“, fährt Kurt fort, „und ich bin jetzt über sechzig. Ein ständiges Hin und Her! Nur dieses Mal, fürchte ich, wird das wenige Gute, das in den letzten Jahrzehnten erreicht werden konnte, endgültig zerstört. Lass uns abschalten und wenigstens heute darüber schweigen.“
„Gut“, ich nicke, ich verstehe das. In letzter Zeit überkommen mich wiederholt ähnliche Gefühle, und die Anzahl der Leute in meinem Umfeld, die über die x-te Krise und den x-ten Krieg mitsamt der prognostizierten Klimakatastrophe, die uns alle töten wird, nicht mehr reden wollen, ist merklich gestiegen.
Kurt richtet den Blick auf den Bildschirm. „Also dann“, sagt er laut. „Seid vorsichtig Jungs und übertreibt es nicht!“ Damit drückt er Off auf der Fernbedienung und der israelische Ministerpräsident, der gerade verkündet, dass sein Land diesen Krieg gewinnen wird − nachdem ein Sprecher der Hamas kurz zuvor etwas sehr Ähnliches verlautbart hat – verschwindet.
Die entstandene Stille tut uns gut, wir wechseln geraume Zeit kein einziges Wort, und als ich mich an die Stille gewöhnt habe, fällt mir auf, dass das einzige Geräusch, das an mein Ohr dringt, das leise Ticken einer weit entfernten Wanduhr ist.
„Unlängst führte ich ein interessantes Gespräch“, sagt Kurt nach etlichen weiteren Minuten, in denen ich mich völlig auf das Ticken der Uhr konzentriert habe. „Ein Bekannter erzählte mir, dass er sich zu jenem Personenkreis zählt, dem die Gnade der frühen Geburt zu teil wurde. Er ist einige Jahre älter als ich und gehört dem letzten Jahrgang an, der mit 60 regulär in Pension gehen konnte. Mein Bekannter blieb keinen Tag länger in der Firma als notwendig, nahm gut gelaunt seinen Abschied und widmet sich seitdem seinen Hobbys. ‚Pensionsschock?‘, meinte er lächelnd. ‚Keine Sekunde lang! Wenn ich es mir hätte leisten können, wäre ich schon mir 55 oder noch besser mit 50 gegangen.‘“
„Tja“, seufze ich, „die meisten, die ich kenne, denken inzwischen ähnlich: Nur raus aus der Tretmühle und ab in die Freiheit! Die Arbeitswelt hat sich nicht zum Besseren gewandelt. Immer mehr, immer schneller und mit immer weniger Leuten: Was, Sie wollen nicht? Ihre Entscheidung, dort ist die Tür …“
„Ja, ja“, meint Kurt, „so ist das nun mal. Aber trotzdem: Als ich dieses Statement über die Gnade der frühen Geburt hörte, war mein erster Gedanke: Dieser Mann hat aufgegeben! − Immerhin ist das Leben endlich, wie wir wissen, und je älter man wird … nun ja, du weißt schon. Aber jetzt denke ich, dass mein Bekannter auf seine eigene Art und Weise mit sich selbst im Reinen ist. Er hat sein Leben gelebt, viele gute Jahre gehabt und – jetzt kommt das entscheidende: Ohne es ausdrücklich anzusprechen, hat er mir anvertraut, dass er verdammt noch mal nicht heiß darauf ist, herauszufinden, was in den nächsten Jahrzehnten so alles auf uns zukommt.“
„Wo du es sagst“, schließe ich an. „Ich kann mich an ein ähnliches Gespräch erinnern, wo mir jemand in unserem Alter erklärte, dass er jetzt nicht mehr 20 sein möchte, weil er in seiner Jugend Freiheiten genoss, die es jetzt nicht mehr gibt, und dass er auf diese guten Erfahrungen schlichtweg nicht verzichten möchte. Er hat mir nicht erklärt, von welchen verlorenen Freiheiten er konkret spricht. Und als ich diesen Punkt hinterfragen wollte, hat er nur gemeint, wenn ich nicht wüsste, wie sehr uns der Staat in den letzten Jahrzehnten entmündigt und unsere persönlichen Freiheiten eingeschränkt hat, täte ich ihm leid.“
„Und du“, fragt Kurt, „was hast du gesagt?“
„Nun, ich habe seine Anschauung respektiert“, erwidere ich, „aber auch gesagt, dass ich anders denke. Wenn ich jetzt nochmals 20 wäre, sagte ich, und idealerweise auch schon alles weiß, was ich heute weiß, dann wäre das eine feine Sache − vor allem dann, wenn ich überdies nicht altern würde und ich mir keine Gedanken mehr um das eigene Ende machen müsse. Tja, dafür würde ich schon einiges geben!“
„Auch deine Seele, so wie Dorian Gray?“, fragt Kurt. „Du weißt schon: Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Das ist diese Geschichte von dem jungen, reichen Adligen, der um ewige Jugend zu gewinnen, seine Seele an den Altar des Teufels nagelt …“
„Ja, ja, ich habe das Buch lesen und den Film finde ich auch sehr gut.“ Ich zögere kurz, dann sage ich: „Ehrlich gesagt, wäre ich tatsächlich in Versuchung, einen ähnlich unheiligen Pakt zu schließen, und ich verrate dir auch warum: Ich bin fest der Meinung, dass es auf diesem Planeten noch viel schlimmer zugehen wird, als wir uns es heute vorstellen wollen. Aber ebenso fest bin ich überzeugt, dass wir, wenn wir unser Minimum als Menschheit erreicht haben, erkennen werden, was getan werden muss, damit dieser Planet ein Garten Eden für alle wird – in Frieden und Wohlstand. So lange würde ich gerne leben, um diesen Turnaround zum Guten zu sehen.“
„Klingt verständlich“, meint Kurt. „Aber was ist mit dem Teufel? Der wird doch irgendwann kommen und seinen Lohn einfordern …“
„Ach“, sage ich leichthin, „wenn es soweit ist, behaupte ich einfach, der Pakt, den ich sinnvoller Weise nur mündlich mit dem Teufel geschlossen habe, gilt nicht und argumentiere mit Gedächtnisverlust. Oder ich behaupte stur, die Rahmenbedingungen hätten sich leider geändert, wofür ich persönlich nicht verantwortlich sei, sondern irgendwer anderer. Diesbezüglich gibt es viele Möglichkeiten. Wie sagte doch der berühmte deutsche Politiker Konrad Adenauer einst so treffend: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“