„Nun − wie war dein Urlaub?“, frage ich Kurt neugierig. Ich weiß, dass er drei Wochen Urlaub hatte, aber nicht, wohin es ihn diesmal verschlagen hat. Reiseentscheidungen triff er meist kurzfristig und spontan, und wenn er verreist ist, hört man auch nichts von ihm. Auf Reisen taucht er ab und ist einfach nicht da.
„Ich bin zu Hause geblieben“, erklärt Kurt knapp.
„Was? Alle drei Wochen? Nicht einmal ein Städtetrip oder ein paar Tage an einem Kärnten See?“
Kurt nickt. „Ganz recht. Kein Städtetrip und auch kein See. Ich habe das Haus beziehungsweise mein Grundstück nicht verlassen. Der Gartenzaun war für drei Wochen die Grenze meiner Welt.“
„Aber wieso …?“ Ich bin verblüfft. „Du bist doch sonst jedes Jahr irgendwohin gefahren!“
„Schon richtig, aber … tja, wie soll ich sagen: In letzter Zeit empfinde ich ein ganz merkwürdiges Unbehagen, wie ich es bislang noch nicht erlebt habe. Kriege, Krisen, Katastrophen … Himmelherrgott, man weiß ja gar nicht mehr, wovor man sich am meisten fürchten soll! Natürlich könnte man jetzt einwenden, Kriege, Krisen und Katastrophen habe es schon immer gegeben, was in gewisse Weise auch stimmt. Ich bin 1962 geboren und als ich mit sechs in die Volksschule ging, bekam meine Familie den ersten Fernseher, ein schweres Röhrengerät und natürlich schwarz-weiß. Und mein erstes und sehr nachhaltiges TV-Erlebnis war die Berichterstattung über den Vietnamkrieg, der damals die Schlagzeilen vollständig dominierte, mit teilweise extrem drastischen Bildern von US-Flächenbombardements und verletzten Soldaten, die sich in unerträglichen Schmerzen winden. So etwas wurde später nie wieder gezeigt. Seit dem Ende des Vietnamkrieges gab es viele weitere Kriege, Krisen und Katastrophen, aber nie fühlte ich mich so bedrückt wie jetzt.“ Kurt unterbricht sich für ein paar Sekunden, ehe er weiterspricht. „Angefangen hat das letzten Sommer und mein damaliger Urlaub, als ich quer durch Skandinavien tingelte und nirgends länger blieb als drei Tage, war, wie ich heute weiß, nicht so sehr ein Urlaub, sondern eine unruhige Flucht. Nur weg von meinem aktuellen Leben und hin zu neuen Eindrücken, um nicht darüber nachzudenken, was die äußeren Ursachen meiner Unbehaglichkeit sind. Auch heuer wollte ich wieder in den Norden, nach Spitzbergen zum Beispiel oder Island, doch an einem meiner letzten Arbeitstage von dem Urlaub habe ich angefangen, die berühmte Satire Candid oder: Die beste aller Welten von Voltaire zu lesen …“
„Ja, ja, die Philosophen“, sage ich mit einem Seufzer, „die werden heutzutage auch kaum noch gehört, vor allem dann nicht, wenn sie unbequeme Gedanken in die Welt setzen.“ Voltaire war ein jüngerer Zeitgenosse des seinerzeit sehr einflussreichen Philosophen G. W. Leibniz (1646 – 1716), der postuliert hatte, dass unsere Welt die bestmögliche sei, weil Gott in seinem absolut guten und perfekten Sein gar nicht anders könne, als das Bestmögliche zu schaffen. Und falls die Menschen dies nicht erkennen, liege dies lediglich an deren beschränktem Erkennungsvermögen. Voltaire geißelt in Candid besagtes Leibniz-Postulat auf bitterböse Weise. Candid, der namensgebende Held seiner Satire, stolpert durch die damals bekannte Welt und erlebt die schlimmsten Dinge: Blutige Schlachten, Schiffbruch, Erdbeben, Inquisition, Krankheit, Tod und Verwüstung. Der ihn begleitende Philosoph namens Pangloss weiß jedoch stets scharfsinnige Argumente anzuführen, warum selbst das schlimmste erlebte Übel kein Einwand gegen den Gedanken sei: Dies ist die beste aller möglichen Welten.
Kurt sagt: „Dieses Buch von Voltaire liest sich unglaublich gut. Es ist eine messerscharfe Kritik und trotzdem höchst unterhaltsam. Aber umgehauen hat mich der Schluss, der dieser Satire seine wahre Tiefe verleiht: Am Ende von Candids Irrwegen, die ihn bis nach Südamerika führen und im wahrsten Sinne des Wortes mit Leichen gepflastert sind, kauft er in der hintersten Türkei ein abgelegenes Landgut, um dort mit Pangloss und einigen anderen, die ihn auf seinen wüsten Reisen begleitet haben, Landwirtschaft zu betreiben und Ruhe zu finden. Als der unverbesserliche Pangloss wieder einmal doziert, dass alle bislang erlebten Übel notwendige Übel waren, ohne die Candid jetzt nicht die Früchte seiner Arbeit genießen könnte, antwortet Candid lakonisch: Gut gesagt, aber wir müssen unseren Garten bestellen.“
Ich nicke und beginne allmählich zu verstehen.
„Und genau das habe ich in meinem letzten Urlaub gemacht: Ich habe das Handy abgeschaltet, das Laptop in einer Lade verschwinden lassen und dem Fernseher den Stecker gezogen. Ich habe von meinen Vorräten gegessen, wenn ich hungrig war und ging schlafen, wenn ich mich müde fühlte. Ich habe einige Kleinigkeiten im Haus besorgt, aber die meiste Zeit verbrachte ich mit Gartenarbeit. Der Rasen und die Hecken sehen jetzt aus wie aus dem Bilderbuch, und ich habe erfahren, wie gut es der Seele tut, mit bloßen Händen die Erde zu berühren oder einen Baum zu umarmen – ohne Störung von außen!“
„Die beste aller möglichen Welten“, murmle ich nachdenklich. „hat da nicht unlängst ein bekannter europäischer Politiker behauptet, Europa wäre ein Garten, während der größte Teil der restlichen Welt ein Dschungel sei?“
„Tja“, lächelt an der Stelle Kurt. „Ich kenne natürlich diese Aussage, und vor etlichen Jahren noch hätte ich sogar Sympathie für dieses Statement empfinden können − aber jetzt nicht mehr. Eine freie Interpretation einer Passage aus Voltaires Satire könnte lauten: Als Pangloss wieder einmal sagt: ‚Dies ist die beste aller möglichen Welten oder: Europa ist ein Garten!‘, erwidert Candid: ‚Wenn dies die beste aller möglichen Welten und Europa ein Garten ist, möchte ich erst die übrigen sehen.‘“
„Also ab in den Dschungel!“, erwidere ich prompt.
„Warum nicht“, meint Kurt langsam. „Auch die Wildnis hat ihre schönen Seiten. Aber aktuell richte ich mich drauf ein, meinen kleinen friedlichen Garten in einem großen Dschungel zu verteidigen.“